Ein Moment fürs Leben. Roman
einen Gefallen bitten?« Ihre Stimme klang zittrig, und ich drehte mich schnell um. Ihre Augen waren rot und geschwollen, als hätte sie die ganze Nacht geweint. Zum Glück machte meine schlechte Laune für einen Moment Pause, und ich entspannte mich etwas. »Wären Sie so nett, das für mich beim Portier abzugeben? Ich habe einen Kurier bestellt, der holt es später ab, hat aber gleich gesagt, er kommt nicht die ganzen Treppen hoch. Und der Kleine schläft gerade, ich kann ihn nicht alleine lassen …«
»Na klar, kein Problem.« Ich nahm ihr die Sporttasche ab.
Sie wischte sich die Augen und bedankte sich, aber ihre Stimme hatte inzwischen ganz den Geist aufgegeben und brachte nicht mehr als ein Flüstern zustande.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Ja, danke, ich bin nur, äh …« Wieder die zittrige Stimme, während sie sich bemühte, die Fassung zu bewahren. Schließlich richtete sie sich auf, räusperte sich und versuchte stark zu sein, aber sosehr sie auch dagegen ankämpfte, ihre Augen füllten sich sofort wieder mit Tränen. »Meine Mutter ist seit gestern im Krankenhaus. Es sieht nicht sehr gut aus.«
»Das tut mir aber leid.«
Sie winkte ab, um ihre Verlegenheit zu überspielen. »Ich hab ein paar Sachen eingepackt, die sie in der Klinik vielleicht braucht. Ich meine, was braucht denn eine Frau, die …« Sie vollendete den Satz nur im Kopf.
»Dürfen Sie Ihre Mutter denn nicht besuchen?«
»O doch, schon. Aber ich kann nicht, wegen …« Sie warf einen Blick zurück in ihre Wohnung, wo das Baby schlief.
»Oh.« Zwar wusste ich genau, was ich als Nächstes sagen sollte, aber ich war nicht sicher, ob ich das wollte, ob es richtig war. Zögernd meinte ich schließlich: »Ich könnte für Sie babysitten, wenn Sie möchten. Bei …« Ich wusste nicht, ob ich »ihm« oder »ihr« sagen sollte. »Bei Ihrem Baby.«
»Ja, bei Conor.« Sie räusperte sich wieder. »Das ist ein sehr nettes Angebot, aber ich lasse ihn so ungern alleine …«
»Das verstehe ich vollkommen«, pflichtete ich ihr erleichtert bei. »Dann gebe ich die Tasche unten für Sie ab.«
Noch einmal bedankte sie sich flüsternd. Als ich am Aufzug angekommen war, fand sie ihre Stimme wieder. »Lucy, wenn ich es mir anders überlege, also wenn ich Sie brauche, im, na ja, im Notfall – wie kann ich Sie da erreichen?«
»Oh. Hm. Sie könnten warten, bis ich zurückkomme, so gegen sechs oder …« Ich wollte ihr meine Handynummer nicht geben, weil ich wusste, dass das bestimmt am Ende nur Ärger bedeuten würde. »Sie könnten mir auch eine Mail schicken …« Ich sah in ihr verzweifeltes, aber hoffnungsvolles Gesicht. Wahrscheinlich lag ihre Mutter im Sterben, und ich schlug ihr vor, mir im Notfall eine Mail zu schreiben. »Sie könnten mich auch anrufen.« Auf einmal entspannten sich ihre Schultern, ich gab ihr meine Nummer und machte, dass ich wegkam. Bei Starbucks an der Ecke holte ich mir einen Cappuccino, kaufte die Zeitung, musste aber leider auf den süßen Typen in der Bahn verzichten, da ich mit Sebastian schon wieder einen Termin in der Werkstatt hatte. Mir graute jetzt schon vor der Rechnung. In meinem Bürogebäude ging ich mit meiner Ausweiskarte durch die Drehkreuze. Meine Firma,
Mantic
, lag außerhalb der City, in einem neuen Gewerbegebiet mit einer Architektur, als wäre hier ein Raumschiff mit Aliens gelandet. Vor zehn Jahren hatte man die Produktion nach Irland verlagert und die Büros zusammengelegt, um das Ergebnis zu steigern, doch seit dem Umzug und dank der Wuchermiete, die das Unternehmen hier bezahlen musste, waren die Profite eingebrochen und hundert der zwölfhundert Mitarbeiter waren entlassen worden.
Mantic
kam von dem altgriechischen Begriff für den Besitz prophetischer und göttlicher Kräfte, ziemlich ironisch angesichts des Ärgers, den die Firma jetzt am Hals hatte – aber keiner konnte darüber lachen. Zwar sah es im Moment aus, als wäre ein bisschen Ruhe eingekehrt, und man versicherte uns, dass unsere Arbeitsplätze sicher waren, aber den meisten von uns saß der Schock über die vielen Entlassungen noch in den Knochen. Noch immer waren wir von den leeren Schreibtischen und Stühlen unserer entlassenen Kollegen umgeben, und obwohl wir mit ihnen fühlten, hatten wir es uns andererseits auch gern an den besser positionierten Tischen und auf den komfortableren Stühlen bequem gemacht.
Mich hatte es überrascht, dass ich nicht von der ersten Entlassungswelle erfasst worden war. Ich arbeitete
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