Ein Mord den jeder begeht
Angelegenheit zu mir führt«, sagte Varanus aridus.
»Ja«, antwortete Castiletz. Er fühlte sich plötzlich sehr wohl. Die Szene hier war nicht ohne Romantik; sie hätte in einem der Detektivromane Vorkommen können, die er vorzeiten ab und zu einmal gelesen hatte. Diese fielen ihm jetzt ein und gleichzeitig der Satz: »Ich könnte mich freilich in aller Ruhe mit der ganzen Sache ernsthaft beschäftigen.« Unmittelbar danach dachte er an Günther Ligharts. Alles das dauerte freilich nur einige Sekunden, während er auf den rundbogigen Chor der Kirche hinaussah.
Inkrat wartete in seiner unbeweglichen Art.
»Es betrifft unser Gespräch neulich«, setzte Castiletz fort, »das heißt also: meine verstorbene Schwägerin. Ich will Sie, Herr Doktor, nicht noch einmal etwas fragen, worauf Sie damals schon geantwortet haben, nämlich ob Sie Henry Peitz für schuldig halten. Es handelt sich um etwas anderes.«
»Und das wäre«, sagte der Varan, jedoch ohne die Stimme am Ende des Fragesatzes zu erheben, so daß dieser etwas gleichgültig oder überlegen herauskam.
»Ich wollte Sie fragen – was ich als Laie in diesen Dingen freilich nicht wissen kann – ob in einem Falle wie dem des Henry Peitz eine weitere Überwachung auch nach der Haftentlassung stattfindet, das heißt, ob die Polizei auf solche Personen ein Auge hat auch in der Folgezeit und wie lange eigentlich?«
»Herr Castiletz«, sagte der Varan mit lidlosem Blick und in völliger Aridität, »alles das trifft zu, und zwar gilt grundsätzlich: wer jemals in seinem Leben mit der Polizei in welcher Weise immer zu tun gehabt hat, den wird sie letzten Endes nie mehr aus den Augen lassen. Im Praktischen freilich ist, was ich hier sage, nicht wortwörtlich zu nehmen. Als Standpunkt jedoch wohl. Wiche irgendeine Polizei der Welt von dieser ihrer geistigen Grundlage – welche das Verbrechen als stets in Bereitschaft befindlich voraus setzt, ganz wie der Arzt die Krankheit – sie könnte ihrer Sicherheitspflicht im Staate nicht mehr genügen. Der Arzt, der Polizist sowie – um diesen ganzen geistigen Typus noch stärker herauszustellen – der reine Prosaschriftsteller, der Erzähler innerhalb der Dichtkunst: sie alle haben, sofern sie ihre Typen rein repräsentieren, das größtmögliche Opfer gebracht, das im Geiste gebracht werden kann: die Welt so zu sehen, wie sie ist, nie wie sie sein soll; und zudem alle noch im Hintergrunde des Herzens sich haltenden oder dort in einer Traumwiege schlafenden Ansprüche auf ein Anders-sein-Sollen dieser Welt für null und nichtig zu erklären. Für diese genannten Geister gibt es nur eine einzige Wirklichkeit und keine zweite, in die man flüchten könnte, vielleicht unter dem Vorwande sogar, daß sie einst werde verwirklicht werden können: hier jedoch beginnt das Hoheitsgebiet eines anderen Typus, der in sich ebenso geschlossen ist, jedoch nur bei ganz anderer seelischer Ernährung und Haltung im Geiste machtvoll und schön zu leben und zu wirken vermag: ohne damit Wert und Notwendigkeit jener ersten Haltung aufzuheben oder gar zu widerlegen: und selbst dann nicht, wenn er die ganze Welt nach seinen Wünschen formte. Denn anders fiele sie, sei sie nun so schön wie sie wolle, aus dem Gleichgewichte in einen leeren Abgrund. So alt das Menschengeschlecht ist, kennt es doch die Naturgeschichte des Geistes noch recht wenig, seine Biologie. Hier wächst jede unentbehrliche Gestalt aus dem Sockel der ihr zugrunde liegenden und angemessenen Lebensform und Grundhaltung: will man sie auf einen anderen stellen, weil man das gerade für gut hält, so zerfällt unverzüglich die Figur. Bedenken Sie nur, welch ein Maß von, ich möchte fast sagen, heldenhafter Bescheidenheit dazu gehört, seine Geisteskraft nur hinter dieses eine Ziel zu setzen: voll und ganz zustimmen zu können, ohne irgendwas auszunehmen, irgendwas ändern zu wollen; allem das Gegen – und Gleichgewicht nur im eigenen Innern zu bieten; wirklich erleben zu können, daß diese Welt immer in Ordnung in ihren Haspen und Angeln hängt. Und somit am Ende erst mit der ganzen eigenen Person ein Wissen und eine Fähigkeit einzuholen, welche jeder Stromer am Zaun uns voraus haben durfte: der von Anfang an durchaus die Welt so sieht, wie sie ist, wenn er auch freilich nur von unten her ihren im Schlamme streifenden Bauch erblickt. – Darum also, sage ich, ist letzten Endes die Polizei eine der wenigen Stellen, von wo aus man eine erlebte Überzeugung von der Notwendigkeit
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