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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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des Verbrechers gewinnen kann, und daher zutiefst und zornlos immer bereit ist, mit ihm zu rechnen.«
    Wenn auch, wie man bemerkt haben dürfte, Conrads »textilische« Verfassung eine weitgehende Auflockerung erfahren hatte – dies war denn doch zuviel. Blitzschnell durchkreuzte sein Hirn der Gedanke, daß dieser Doktor Inkrat vielleicht ein vortrefflicher Theoretiker sein konnte, schwerlich aber in der Praxis ein solcher Kriminalist, wie ihn der Fall Louison Veik eben erfordert hätte, wobei es auf die Fähigkeit, mehr oder weniger klug zu reden, verdammt wenig angekommen war. Nun, und er, Castiletz, mußte heute deshalb vor einer Mauer ohne Tor umherirren. Mit einer ganz leisen, aus der innersten Kammer seines Wesens hervorsickernden Überlegenheit – die stärkste Kraft, welche in solchen Fällen der Ungebildete hat – lenkte er das Gespräch wieder in konkretere Bahnen:
    »Ist Ihnen bekannt, Herr Doktor, was dieser Henry Peitz heute treibt und wo er sich befindet?«
    »Nein«, sagte Inkrat. »Ich habe ja mit solchen Dingen seit Jahren nichts mehr zu tun. Wahrscheinlich sitzt er nach wie vor in Berlin und betreibt sein Geschäft. Wir konnten während der ersten Zeit nach seiner Haftentlassung übrigens nie an seiner Lebensweise irgend etwas Auffälliges feststellen.«
    Conrad heftete seine Augen wieder auf den grauen Rundbau des Kirchenchores draußen, als sei dies die Mauer, an welcher er die richtige Stelle zum Durchbrechen suchte. Es dämmerte bereits tief im Zimmer und Inkrat schaltete eine Lampe ein. Das in alle Ecken springende Licht wirkte auf Castiletz plötzlich belebend.
    »Die wichtigste Auskunft, welche ich von Ihnen, Herr Doktor, erbitten wollte, ist eigentlich eine rein formale«, sagte er sehr lebhaft. »Nämlich ob es streng genommen als zulässig bezeichnet werden könnte, wenn ich, als sozusagen naher Verwandter der Verstorbenen, auf eigene Hand versuchen würde, den Fall aufzuklären?«
    Ob Inkrat nun überrascht war, ließ sich bei seiner unbeweglichen Art nicht erkennen. Er sagte vollkommen ruhig und in einem – vielleicht echt – gleichgültigen Tone:
    »Dagegen kann auf keinen Fall etwas eingewendet werden.«
    Sie schwiegen. Castiletz fühlte es auf der Haut, daß Inkrat ihn von seitwärts her in aller Ruhe betrachtete. Die Lampe stand hinter Inkrat auf dem Schreibtisch und warf ihr Licht voll auf Conrad herüber. Durch Augenblicke stieg in diesem ein Bild herauf, klar und scharf: er sah sich selbst mit seinem Schwiegervater in dessen Arbeitszimmer beim Weine sitzen – ihm gegenüber hing das Bildnis des Katers Tschitschipeter mit den Augen eines Tiergottes über dem Sofa – und er empfand jetzt, wie in den Gliedern heute noch nachklingend, jene Müdigkeit und Lähmung, welche damals über ihn hereingebrochen war, als der Präsident seine Erzählung von Louison und Derainaux beendigt hatte. Und auch jetzt, hier, im Lichtkegel der Lampe unter dem auf der Haut fühlbaren Blicke Inkrats, lähmte ihm eine Art Umständlichkeit und geradezu die. Scheu vor der Mühe des Sprechens die Zunge, welche sagen wollte oder sollte, daß er selbst, Castiletz, als Junge von fünfzehn Jahren, eben zur Zeit, als das Verbrechen geschah, sich hier in der Stadt bei der Frau Erika von Spresse, seiner Tante, befunden hatte.
    »Darf ich Sie fragen«, sagte Doktor Inkrat, »ob Sie bei dem Gedanken, selbst nachzuforschen, von einer bestimmten Vermutung geleitet werden?« Und, diese offenherzige Frage sogleich abschwächend, setzte er hinzu: »Ich kann Ihnen außerdem mitteilen, daß, falls eine solche vorhanden ist und Sie im Laufe Ihrer Beschäftigung mit der Sache dazu kommen sollten, sie erhärtet zu finden, keine Verpflichtung Ihrerseits besteht, der Polizei Kenntnis von Entdeckungen zu geben, wenn es Ihnen im Interesse der gänzlichen Aufklärung des Verbrechens besser erscheint, das Eingreifen der Behörde zunächst noch hinauszuschieben.«
    Conrad fühlte sich augenblicklich durchaus als Herr der Lage. Ja, es war seine Absicht, mit dieser Sache »sich zu beschäftigen«! Er hatte auch reichlich Zeit dazu unter den gegenwärtigen Umständen. Das alles war klar und einfach. Er würde diesen Fall eben in die Hand nehmen und ordnen. Ein plötzliches Aufgerichtetsein erfüllte ihn, nicht unähnlich jenem, das er empfunden hatte, als ihm Herr von Hohenlocher, um sich zu belustigen, damals mit dem dummen Funken an der elektrischen Klingel gekommen war. Eine solche Verfassung ermöglichte es jetzt Castiletz, die

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