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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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nämlich, als ich hier bei dir war, noch ein kleiner Junge (er sah ihren Kopf vom Kissen aufgerichtet, in diesem Augenblicke, ganz platt, wie ein kleines Brett) . . . vermagst du dich vielleicht noch genau zu erinnern, an welchem Tage ich damals wieder abreiste?«
    Ihre Hand tauchte, wie der Hals eines gründelnden Wasservogels, unter der Decke hervor und stieß schnabelartig mit gerecktem Zeigefinger senkrecht von oben auf einen Klingelknopf am Tischchen neben ihr.
    »Das Jahrbuch 1921«, sagte sie zu dem Mädchen.
    Es kam ein kleiner Band in rotem Leder.
    »Hier steht« (teilte Tante Erika mit): »Conrad heute nachmittag abgereist nach Stuttgart und weiter nach Mergentheim, wo er um ein Uhr erst bei Marie eintreffen wird. Ließ sich von der Reise bei Nacht nicht abraten; obwohl mir’s peinlich war, daß meine Schwester so spät zum Empfang des Jungen bereit sein mußte, tat ich ihm den Willen und ließ ihn bei Nacht fahren, weil er sich dies gar so sehr wünschte. 24. Juli 1921.«
    Das aufgerichtete Brettchen schwieg. Auch Conrad.
    »Du kamst erst abends nach Stuttgart«, sagte sie, »hattest dann etwa um ½
    10 Uhr einen Schnellzug, und mußtest noch dazu knapp vor Mitternacht in Lauda umsteigen.«
    Sie schien ihm heute noch einen Vorwurf wegen seines knabenhaften Eigensinns machen zu wollen. Vielleicht war es eine Art von Gegenstoß, als er, mit genauer Aussprache, sagte:
    »Wenn ich in der Nacht vom 24. auf den 25. Juli im Schnellzuge zwischen Stuttgart und Lauda fuhr, da kann es sein, daß ich mich in dem gleichen Eisenbahnzuge befand, in welchem damals Louison Veik ermordet wurde.«
    »Ja«, sagte das Brettchen vollkommen unbeweglich. »Ich dacht’ es auch oft. Aber was hat das schließlich zu sagen. Außerdem geschah diese Untat auf einem viel späteren Teil der Strecke, soviel ich weiß. Nun, ein Zufall.«
    Castiletz sah zu Boden. Er war über dieses Wesen ganz ehrlich und fassungslos entsetzt. Eine Chimäre, eine Harpye, die hier wespengleich an sonniger Mauer wohnte, trocken und kalt, ohne Gnade. Tatsächlich erlebte er hier, angesichts dieser rein verstandesmäßigen Unbeweglichkeit, etwas, was ihm über den Verstand ging, was seine Fähigkeit zum Begreifen weit überschritt, ohne daß für seine Empörung irgendein Ausweg vorhanden gewesen wäre. Er sagte nichts, nicht einmal: »Nun, mich berührt es immerhin höchst merkwürdig, und es hat mich diese Vorstellung oft schon erschüttert«, oder etwas von dieser Art. Hier konnte man überhaupt nichts mehr sagen, sich nicht mehr Luft machen, denn da begann der luftleere Raum, das reine Vakuum. Er vermied es, Frau von Spresse anzusehen, und seine innere Bewegung war so groß und gewissermaßen hilflos, daß er ihr später auf der Straße noch lange ausgeliefert blieb, ja, fast den ganzen Heimweg hindurch.
    Mit Marianne kam dann paradoxerweise aus Italien der Winter, zumindest begannen sogleich die Zurüstungen für diesen: Duracher stand bei den Sitzmöbeln und dem Tische, die, metallisch und zeitgemäß, im Vorzimmer auf der graugrünen Bodenbespannung inselten, die kurze Pfeife im Mund – aber gar nicht wichtigtuerisch, das lag nicht in seiner Art, er war eher wortkarg. Und vielleicht war ihm sehr bewußt, wie man auf eine Frau aufpassen muß, die anfangen soll Skilaufen zu lernen.. . . Der Boden war ein Heerlager, nein (das wurde jetzt so wie nichts hingeschrieben, ohne genaue Erfassung des Wortsinnes, der Verleger wird uns heimleuchten!), also: ein Lager von hierhergeschickten Wintersportartikeln. Sie wählte die Bretter, die Bindung.
    »Nein«, sagte Duracher, »das kommt nicht in Frage. Wenn Sie einmal fahren können, dann dürfen Sie meinetwegen Hickorybretter nehmen. Vorläufig können Sie noch nicht einmal bergauf gehen und werden schon noch was kennenlernen. Also Esche.«
    Sie betrachtete Spiralfedern, welche von den Knöcheln nach rückwärts aufs Brett zu gehen hatten.
    »Für einen Anfänger ohne Bedeutung. Und bis Sie laufen können, ist man längst davon abgekommen, so wahr ich Peter heiße.«
    Nach dem Weihnachtsabend reiste sie ab und auf Durachers Rat vier Wochen in den »ersten Kurs«, zu St. Anton am Arlberge. Ihre Bräune, als sie wiederkam, war unbeschreiblich. Die blauen Augen schienen von tief rückwärts hervorzublitzen. Am folgenden Wochenende fuhr sie mit Duracher im Allgäu eine leichte Tour, und er schien zufrieden. Acht Tage später ging es nach Oberstdorf in Schwaben, mit zahlreicher Gesellschaft; und im März gelangte

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