Ein Mord den jeder begeht
Marianne, wieder am Arlberg, in den »zweiten Kurs«. Duracher äußerte sich einem von den jungen Leuten gegenüber, daß für Marianne das Vortraining des Sommers sehr günstig gewesen sei, samt der Skigymnastik.
Mit den jungen Leuten, die oft heraufkamen – tiefbraun zum Teil wie Marianne – wehte jetzt eine neue Luft herein und ein unbekannter Hintergrund des Seins, den Conrad sich im ganzen blau und weiß vorstellte, und etwa braun, wenn von den Hütten und dem Leben auf diesen die Rede war. Ihn trennte eine Glaswand davon und hielt eine Verstocktheit (die er seltsamerweise zutiefst für heilsam erachtete) von alledem ab: wenngleich er Sehnsucht empfand. Ihm schien, vor kurzer Zeit, gestern, vorgestern, hätte er sozusagen noch ein Recht gehabt, sich kopfüber hineinzustürzen, mitzugehen, mitzutun; und am Ende hätte es ja an der körperlichen Eignung hierzu gerade bei ihm nicht gefehlt. Jedoch heute war das alles vorbei, er blieb allein. Was ihn am meisten anregte, mit Verlangen erfüllte, anzog, das war die Art von Geselligkeit, von Abenteuern, von Zwischenfällen – was alles sich aus hingeworfenen Bemerkungen von dem oder jenem ergab: also gerade das, was dort selbstverständlich war. Es gab in jener Welt dort oben, aus der man braun und mit hervorblitzenden Augen und über die Knochen frisch gespannter Haut zurückkehrte, offenbar auch stehende Figuren, ja Intrigen, Verwicklungen, Überraschungen, die sich in ganz einzigartiger Weise und auf einer nie gekannten Ebene des Lebens abspielten, auf Hütten oder Gletschern, Hochkaren oder Hängen, in zwei – bis dreitausend Meter Höhe.
Das Alleinsein aber war ihm lieb, er gestand sich das längst ganz offen, in einer Art von Bereitschaft, jeden Widerstand gegen diese Erkenntnis aufzugeben. Also daß jene Augenblicke damals im Badezimmer, als Marianne nach dem Schrei auf der Straße getobt hatte, und er eben deswegen unvermögend gewesen war, sie zärtlich zu trösten (und angesichts seines Unvermögens geradezu erleichtert!) – daß jene Augenblicke also zu einer Art von Dauerform gelangt waren, gegen deren gleichmäßigen Fluß es bei ihm nur selten kleinere Rückläufe gab.
Im Werk ging alles seinen Gang. Eisenmann war überall, grobste mitunter gewaltig aus voller Brust, rauchte Zigarren, schenkte auch welche. Dann und wann führte er mit dem »Bürschle« Gespräche, wovon eines merkwürdig war, das im Arbeitszimmer des Direktors gegen Ende Februar stattfand. »Wollt’ dir einmal was sagen, wegen Marianne, aber nicht übelnehmen dem alten Eisenmann, Bürschle« (es kam alles so kurz heraus, er paffte auch dementsprechend vor sich hin). »Ist alles schön und gut. Leider habt ihr keine Kinder. Da scheint denn eine Entwicklung einzutreten, welche in irgendeiner Weise zu einem, sagen wir mal, nicht erfreulichen Punkte führen kann. Ich wußt’s von Anfang, Bürschle, daß du’s nicht leicht haben wirst. So ein älteres Mädchen – na ja, das war sie doch, als du heiratetest! – das ist wie eine zusammengepreßte Stahlfeder, in irgendeiner Weise. Nu springt sie denn. Solltest dich bemühen, die Interessen deiner Frau etwas mehr zu teilen. Du warst doch früher einmal ein recht tüchtiger Sportsmann; und jetzt spielst du nicht einmal mehr Tennis. Was ist denn mit dir eigentlich los? Deiner Frau kann man nichts übelnehmen, sie ist, gottlob, in lustiger Gesellschaft, und was man hier redet, scheint mir blödsinnig und eine Übertragung von Maßstäben, die auf unserem Pflaster gelten, hinauf in Höhen von einigen Tausendern und auf Skihütten. Na, das bringt freilich eine andere Lebensart mit sich. Andere Gebarung, möcht ich sagen. Na, ja. Kümmere dich ein wenig mehr um deine Frau. Schau mich alten Esel an, ich spiele noch Tennis im Sommer. Und du warst noch dazu so was wie ein Meister. Der Duracher hat’s damals nicht zwingen können. Und: nichts für ungut, Bürschle.«
Wort für Wort, Satz für Satz, die der liebe alte Eisenmann sprach – sie ließen in Castiletz, und ganz gleichmäßig gesteigert, eine Art Lähmung heraufquellen wie Grundwasser, mehr und mehr; und noch bevor der Direktor geendet hatte, befand sich Conrad in der Lage eines Mannes, der guten Rat empfängt, ja, den einzig richtigen Rat, dessen Hände aber gebunden sind: und dabei weiß er selbst nicht recht, mit was für einem Stricke. Ja, das Glas stand sozusagen hart an der Tischkante, und es würde bestimmt fallen. Eisenmann hatte recht. Der Verstand nahm das wahr, aber eben
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