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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Augenblicke, wie zerblasen. Sein Gesicht stürzte plötzlich in die Hände, welche er davorschlug, ab wie in einen tiefen, tiefen Schacht.
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    Noch vor der Rückkehr Mariannes aus Italien besuchte Castiletz seine Tante Erika von Spresse. Er fand sie trotz der späten Jahreszeit im Freien, an der sonnigen Rückwand des Hauses gegen den Garten zu – der jetzt, vielfach entblättert, wieder Ähnlichkeit mit dem frühjährlichen Zustande gewann; nur hatte sich alles – Stakete, Spaliere und Bänke – über den Sommer mit der Wärme vieler sonniger Stunden alltäglich vollgefüllt, und diese schien nun von den wieder hervortretenden Klapprigkeiten noch ausgestrahlt zu werden, weshalb vielleicht die Dinge nicht so sehr abgemagert aussahen wie im Frühling nach der langen Feuchte und Kälte des Winters. Noch lag der Herbst rundlich in der Luft wie Wein im Glase, die treibenden bunten Blätter, welche aus den Gärten in dichteren Scharen über den Asphalt der Straßen strichen, hatten nichts Trauriges an sich, es war ein lustiger bunter Tanz, hinter dem am Straßenende eine blaue Himmelsfahne im Winde zog.
    Hier auf der niederen Terrasse lag die Tante, soviel eben von ihr vorhanden war, im Liegestuhl mit Decke, umgeben von ganzen Stapeln der Bücher. Castiletz saß daneben und sprach mit seiner Tante von all diesen Schätzen des Geistes, das heißt sie unterrichtete ihn – der ja zu einem ganz anderen Zwecke gekommen war – über ihre derzeitigen Studien und Bestrebungen (es waren immer welche im Zuge, wie man weiß). Da gab es zum Beispiel die lateinische Paläographie – hier, der Lehrgang von Steffens, sowie des Engländers Thompson vortreffliches Buch über die Handschriften des Klosters Monte Cassino. Conrad fragte nicht: »Was ist das – lateinische Paläographie?« Die Frage wäre in dieser gehobenen Sphäre einfach zu roh, zu weit von unten gestellt gewesen, das fühlte er selbst. Im übrigen wurde er bald belehrt und erfuhr, daß man, um mittelalterliche Handschriften lesen zu können, vor allem in der altrömischen Kursive sich üben müsse (allerdings sehr schwer!) und in den sogenannten »tyronischen Noten«, die Stenographie oder Geschwindschrift der Römer (Cicero hatte sie für die Senatsdebatten eingeführt!), deren Reste vielfach in den mittelalterlichen Schreibgebrauch übergegangen waren . . .
    Sie hielt ihm ein Blatt des großen Tafelwerkes vor, welches auf gelblichem Grunde unterschiedliche Häkchen und Haken zeigte, auch einiges, was wie waagrechtliegende Beistriche aussah. Conrad schüttelte bewundernd den Kopf. »Du kannst das lesen?« sagte er. »Noch nicht«, antwortete sie, »aber bei einigem Fleiße wird es mir mit der Zeit schon gelingen, die Bedeutung der einzelnen Verbindungen oder, wie das Fachwort heißt, Ligaturen, zu behalten und sie dann wiederzuerkennen.« Ja, es ging Castiletz ähnlich wie damals, als es mehr und mehr Zeit wurde, an jene Endstelle der Straßenbahn zu fahren, wo Ida Plangl gewartet hatte; und als er dort drüben, jenseits des Kanales, bei Albert Lehnder gewesen war, da hätte er noch immer zurechtkommen können, wenn er sich nur gleich an der Tür entschlossen hätte, Albert um das Nötige zu bitten. Dann waren sie in die Au spazierengegangen ... ja, sicherlich drückend das alles! Wegen fünf Mark fünfzig bis sechs Mark (Castiletz vergaß, daß damals die vergehenden Minuten Zahnmusik auf seinen Nerven gemacht hatten, während jene gewisse Auskunft, welche er heute von Tante Erika erlangen wollte, nicht an einen bestimmten Zeitpunkt gebunden war, sondern auch später einmal gegeben werden konnte – indessen, er schien ein Mißtrauen gegen sich selbst zu hegen in dieser Sache, welches auf ein »heute oder nie« hinauslief!). Tatsächlich hatte er seine Absicht schon aufgegeben, ja, die wissenschaftlichen Erörterungen der Frau von Spresse wurden ihm nun fast lieb, weil sie gewissermaßen seine Schwäche bedeckten – denn wenn er nicht zu Worte kam, dann konnte er wohl auch keine Fragen, noch dazu ganz abseits liegender Art, stellen.
    Jedoch, es trat eine Stille ein. Von ihr umgeben standen im leeren Garten unerschütterlich die großen Männer, so Pascal wie Giordano Bruno. Die Luft schien sich durch einige Augenblicke in Glas zu verwandeln, als Castiletz – von einem plumpen und ungeordneten Vorstoße seiner Stimmbänder mitgerissen – sagte:
    »Ich hätte dich schon längst gerne etwas gefragt, was mich interessiert, Tante Erika, die Zeit betreffend

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