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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Conrads Schwiegervater betraf, unrecht. Hohenlocher ging so weit, mit dem Gedanken zu spielen, daß man einem der beiden Brüder einmal irgendeine recht unangenehme Nachricht überbringen müßte (in Steuersachen bestand hierzu allerdings nie ein Anlaß), oder aber sie um eine Gefälligkeit ansprechen sollte, die ihnen ungelegen wäre, »um endlich einmal das wahre Gesicht dieser Lacher von Beruf zu sehen«.
    Das stimmte nicht. Robert Veik neigte sogar nicht selten zu einer gewissen Schwermut. Castiletz dachte jetzt an manche Stunde im Laufe dieses Winters, die er bei seinem Schwiegervater in dessen Schreibzimmer verbracht hatte, über das und jenes, über vieles, ja am Ende eigentlich über alles mit ihm sprechend ... es war übrigens eine ganz neue Atmosphäre für Conrad: die tiefen Sessel, in denen man halb lag, dann und wann ein Schluck Rheinwein aus dem Glase, welches Getränk jedesmal aufs neue über die ihm innewohnende vielfältige und glänzende Rundung des Geschmackes staunen machte. Man saß hinter Zigarren-Nebeln. Und hier, zum ersten Male, hatte Conrad solch eine kleine, leichte helle Importe kennengelernt. Dies gehörte hier dazu. Er liebte es, rauchte allerdings sonst nie, sondern nur bei diesen Plaudereien.
    Jetzt, am offenen Fenster stehend, freute er sich auf das alles, und dieser Nachmittag gewann hierdurch noch mehr Leben. Marianne befand sich mit ihrer Mutter in der Stadt, um Einkäufe zu machen; abends beabsichtigte Castiletz mit seiner Frau eine Opernvorstellung zu besuchen, mußte also rechtzeitig hier sein, um Marianne abzuholen und sich selbst noch umzukleiden. Während er dieses erwog, die Fensterflügel wieder fügte und den Vorhang fallen ließ, empfand er deutlich und neuerlich die Bereicherung aus jenen wenigen Augenblicken vorhin auf dem Diwan, die ihn dann so sehr erschreckt hatten.
    Er wollte nun, da noch Zeit blieb, zu Fuße durch die Stadt gehen und machte sich fertig. Die Tür schloß sich lautlos hinter ihm; dieses Schloß hörte man nie, und Conrad pflegte mit der flachen Hand von außen gegen die Tür zu drücken, um sich zu vergewissern, daß sie fest zu sei.
    Die Luft war von Feuchtigkeit erfüllt, im Park der Kies noch weich, die Sicht über die vielfach einspringenden Wiesen und vorspringenden Baumgruppen verschleiert. Jetzt roch es nach Erde. Conrad kam wieder auf den Asphalt, unweit von dem Teegeschäfte mit dem großen roten Schild. Hier begann eine lange, dabei jedoch schmale Straße, durch welche obendrein die Straßenbahn fuhr – Linie 3 – die Wackenroderstraße, mit ihrem anderen Ende in eine Hauptverkehrsader der Stadtmitte mündend. Laden reihte sich hier an Laden, kleine Geschäftchen des täglichen Bedarfs. Der Bürgersteig bot kaum für zwei Fußgänger Raum. Die Straßenbahn klingelte, und wo sie hielt, knurrten die wartenden Kraftwagen den Aus – und Einsteigenden zu, daß sie sich sputen mögen. Über all diesem Getrieb, worin jeder vom anderen grundverschiedene Ziele zu haben schien, begann die Dämmerung einzufallen, blieb aber wie ein Zelt über der Straßenmitte an den gereihten Lichtern hangen, die lange vor ihr schon bleich dort oben geschienen hatten. Castiletz trat in die mächtig breite Königstraße heraus. Hier war sozusagen schon die Nacht proklamiert, vorzeitig, aber der noch in blasser Dämmerung geöffnete Himmel mußte sich zurückziehen und nach oben ins Dunkel entweichen vor den hier allenthalben in Stufen, Reihen, Zacken und Ecken gegeneinander losmarschierenden Lichtern, Buchstabenreihen in Rot und Blau, riesigen Tafeln voll grün strahlender Schrift und einzelnen fernen aber starken Glutpunkten an den Kanten der Dächer. Über die Fahrbahn rissen die Wagen Lichtband nach Lichtband.
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    »Nein, lieber Koko« (so nannte der Präsident seinen Schwiegersohn in Vereinfachung von dessen Kindernamen), »das ist aussichtslos. Hier ist gar nichts mehr zu tun. Es gibt Fälle, angesichts derer die Vernunft abzutreten hat. Es sind das die wahren Musterfälle des Schicksals. Ich habe in meiner langen Praxis wohl auch dies oder jenes Verbrechen erlebt, das nie seine Sühne gefunden hat; mangels an Beweisen etwa. Jedoch hier, bei Louisons Katastrophe, konnte nicht einmal der Staatsanwalt die Klage erheben, nicht einmal dazu langte es. Jener Henry Peitz war nie in ordentlicher Untersuchungshaft und die Polizei sah sich genötigt, ihn nach kurzer Zeit freizulassen.«
    Eine waagrecht über dem Tisch schwebende Rauchfahne sank allmählich nach rechts

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