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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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gleich zuallererst, wenn obendrein und erst recht noch geschieht, was er in seiner Vorstellung schon erledigt hat. Es geschieht jedoch darum mit nicht minderer Wucht, und das beleidigt den Menschen und zeigt ihm die Ohnmacht seines schwächlichen Geistes. Ich machte diese Abschweifung deshalb, um den Zustand, man könnte sogar sagen, den Gleichgewichtszustand zu beschreiben, in welchem ich mich in der Sache Derainaux und Marion befand. Ich sah alles voraus. Meine Frau wohl auch, sie wußte auf ihre Art Bescheid und handelte, und sogar rasch. Sie trachtete nämlich, das Erscheinen Louisons auf dieser so bestellten Bühne zu verhindern, womit sie bewies, daß sie den Fall ähnlich sah wie ich, nur eben nicht seine Unentrinnbarkeit, die ich unzweideutig empfand. Louison hielt sich damals in Paris auf und hatte seinerzeit den Wunsch geäußert, darüber hinaus noch einen Teil des Sommers in Deauville zu verbringen, welches Seebad jene uns befreundete Familie, bei der Louison in Paris wohnte, alljährlich aufzusuchen pflegte. Meine Frau war ursprünglich nicht entzückt, das Kind so lange Monate entbehren zu müssen. Jetzt aber bestärkte sie Louison in ihrem Vorhaben, sorgte dafür, daß diese genug Geld zur Verfügung habe, und schrieb ihr sogar, daß sie selbst gedenke, zu ihr nach Deauville zu kommen. – Nun gut, das sind Einzelheiten, bei denen ich zusah, gleichsam wie dem Wasserglase, das bald von der Tischkante fallen wird; die Anstalten meiner Frau hielt ich für im Grunde zwecklos und hatte damit recht. Denn vierzehn Tage später war Louison in Leipzig.«
    Conrad, der sich hier freilich an die seinerzeitigen Andeutungen des Herrn von Hohenlocher erinnern mußte, hörte mit Begierde zu. Jede Kunde, die Louison betraf – und sie bildete für ihn den Mittelpunkt in des Präsidenten Erzählung, nicht aber Marianne – jede Kunde von Louison also war für Conrad ein Stoff, den er begierig aufsog, wenn sich Gelegenheit bieten wollte, den jedoch seinerseits durch Fragen fließen zu machen Takt und Rücksicht ja allermeist verboten.
    »An dem, was nunmehr geschah«, fuhr der Präsident ruhig fort, »erscheint mir als das Wesentlichste, daß es keineswegs zum ersten Male geschah – zum ersten Male nur in solchem Materiale, bei solcher zwingenden Spannung in den Kapillaren des Lebens. Jedoch der Grundform nach kam hier ein Mechanismus in Bewegung, den ich, sozusagen aus dem Augenwinkel gesehen und aus halben Seitenblicken, schon von der Kinder – und Backfischzeit der beiden Mädchen her kannte. Ganz beiläufig, sage ich. Als ein Wasserglas an der Tischkante, das aber noch nie heruntergefallen war, so daß es richtige Scherben gegeben hätte, die zur klaren Kenntnisnahme – zumindest hintennach – denn doch zwingen ... Es ist eine bezeichnende Erscheinung gewesen, an die wir uns so allmählich gewöhnt hatten, daß, als die Mädels klein waren, jedermann zunächst immer von Marianne am meisten entzückt war, von ihren roten Wangen, weizenblonden Zöpfchen, festen dicken Beinen und höchst vernünftigen Antworten. Louison wurde fürs erste weniger beachtet, sie wich mit ihrer ganzen dunklen und schlanken Erscheinung gleichsam weich und bescheiden zurück. Aber immer wieder, früher oder später, verfielen diejenigen, welche zuerst die kleine stämmige blonde Marianne angebetet und verwöhnt hatten, auf Louison, die zunächst im Hintergrunde gestanden war. Ich behaupte übrigens, daß Eltern ihre Kinder und die Kinder ihre Eltern als eigentlich lebendige Menschen zu sehen gar nicht leicht bereit sind, vielmehr füreinander eine gegenseitige Sollvorstellung bilden, die, wenn man sie genauer betrachtet, mit dem Gedanken, daß so ein Vater etwa ja auch ein eigenes Leben, eine Lebensgeschichte habe, fast unvereinbar erscheint . . . Nun, meiner Ansicht nach wären vor allem die Eltern durch ihre in diesem Falle größere Befähigung verpflichtet, solche Befangenheit zu zerschmettern; jedoch, man glaubt es nicht, welche Kraft dazu gehört, einer Sache, die man dauernd so halb und halb und aus den Augenwinkeln wahrnimmt, den ganzen Blick voll zuzukehren, sie mit diesem Blicke zu umgreifen, ihr die scharfen Konturen einer Tatsache zu verleihen, durch die Magie des im Denken klar hingestellten Wortes . . . Nein, man blickt aus den Augenwinkeln – und das Glas bleibt also an der Tischkante stehen. Nun, du wirst gleich sehen, wo ich da hinaus will, bei der ganzen Sache mit Derainaux, wie sie dann verlief... es war nämlich von

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