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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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führte, begann Conrad ganz allmählich damit – eine Vergangenheit zu haben. Und, seltsamerweise, von dort her lockerte sich das Umfangende dieses Hier und Jetzt auf, ließ es nicht durchaus und nur mehr als ein Fortgeschrittenes gegenüber dem Früheren erscheinen, sondern ganz im Gegenteile als ein willkürlich angefügtes und darangelegtes Schlußstück fremden Stoffes, wie der Stelzfuß etwa an einem lebenden Bein.
    Immer traf ihn dann, wenn er so weit hielt – so weit nämlich, daß er sich wunderte, über diesen schweren Schreibtisch zum Beispiel, oder daß da eine Frau nach Hause kommen würde – immer traf ihn dann das Antlitz Louisons als die eigentlich lebendige, verwandte und nicht aus fremdem und hergeholtem Stoff bestehende Fortsetzung jenes vergangenen Lebens. Auch sie stand in befremdendem Lichte, aber in demselben, worin sich jene früheren Jahre nun darboten; bis zu irgendeinem Punkte reichte dieser Schein, unter dem schon der biegende Kanal mit den fernen Fabrikschloten dort lag, gereiht wie Pfeile in einem Köcher, und die Gassen zum Wasser hinab und die Brücke – alles, was Castiletz bei seiner letzten Anwesenheit in der Vaterstadt nicht gesehen, nicht beachtet hatte; bis zu irgendeinem Punkte reichte dieser Schein, und, sah man genauer zu, so stand an diesem Punkte Ida Plangl bei der Endstelle der Straßenbahn und wartete. Von da ab jedoch wurde es gegen die Tage hier und jetzt zu gröber und dunkler, undurchsichtig wie das Holz dieser schweren Möbel hier, eine Art riesenhafter Deckel, von dessen bloßer Deckelnatur Castiletz eine gewisse Kenntnis hatte: dies nun war die eigentlichste und geheimste Wirkung Louisons; denn sie erhob sich jetzt am anderen, ihm zugekehrten Ende, unter welchem er selbst noch lag; jedoch sie war ganz vom gleichen Stoffe wie der erste Teil des Lebens, welcher vor jener Endstelle der Straßenbahn, wo Ida stand, sich zurückerstreckte.
    Kein Denker von Beruf und des Meditierens gänzlich ungewohnt, fuhr Conrad, nach solchem sekundenlangen Versickern im Geäder des Lebens, mit einem richtigen Schrecken auf, derart, daß der Kaffee aus der Tasse schlug, weil er das Tischchen bei der Ottomane angestoßen hatte. Jedoch die gehabten Vorstellungen, einmal zu solcher Dichtigkeit gelangt, erwiesen sich insoferne bereits als wirklich und widerstandsfähig, als sie wie einen Kristall oder festen Körper in ihm die Empfindung zurückließen, daß hier irgend etwas – zu tun wäre.
    Womit er nichts anzufangen wußte. Das Ungewohnte lenkte immerhin Conrads Schritte in ungewohnter Richtung, als er jetzt, am Schreibtische vorbei, durch das Zimmer ging und die Tür zum Speisezimmer und dann zu dem großen Ecksalon öffnete.
    Es war vielleicht zum ersten Male, daß er dies überhaupt tat. Sein Schreibzimmer pflegte Castiletz vom Vorraume aus zu betreten und ebenso zu verlassen.
    Der Raum lag leer, spiegelnd, die Sesselchen steckten unter grauen Überzügen und waren an den Wänden zusammengeschoben. Noch herrschte Tageslicht; heute, an einem Samstage, hatte Castiletz seine Ruhestunde früher gehalten, er war nach Tisch nicht mehr ins Werk gefahren. Während Conrad hier über das hallende und leicht krachende Parkett schritt, hatte er die Empfindung, irgendeinem Entschlusse oder sonst einer Sache von Gewicht oder Bedeutung entgegenzugehen: es war das eine Empfindung wie von der eigenen Breite und Festigkeit, er fühlte dabei seine Schultern. Nun, vor dem einen Fenster gegen die Weißenbornstraße, ließ er den Vorhang zurückrauschen, öffnete beide Flügel vollständig und sah auf den Park hinaus.
    Es war milde geworden. Der Park lag noch ohne irgendwelches sichtbare Grün, in seine eigene Weite versinkend und in das endlose feine Gestrichel der kahlen Äste. Der Straßenlärm schwieg, es war stille. Castiletz fühlte jetzt rechts hinter sich, weit unten in der Hans-Hayde-Straße, seine eigene einstmalige Behausung, klein und zusammengedrückt und von dieser neuen Umgebung, die ihn umfing, sozusagen ganz an den äußersten Rand geschoben.
    Es war vereinbart worden, daß er heute nachmittags seinen Schwiegervater besuchen sollte, was Conrad jetzt nicht selten tat. Den Präsidenten Veik hatte er eigentlich erst in der letzten Zeit näher kennengelernt. Wenn Herr von Hohenlocher behauptete, daß man die »beiden Veiks« überhaupt nicht kennenlernen könne, weil sie »alles und jedes und jedermann mit ihrer unentwegten Heiterkeit erschlügen«, so hatte er damit, zumindest was

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