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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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jener Ausstellung war zudem mit mir befreundet. Ich gewann Derainaux gleich lieb, er war der natürlichste Mann, den ich je gesehen habe, ein Bretone, also eigentlich germanisch-normannischer Abkunft, jedoch gesegnet mit dem ganzen Charme eines richtigen Parisers. Nun, was Marianne betrifft, so wußte ich von Anfang an gleich alles. Es war jenes Platzen einer Knospe, eine jener leisen, aber unmenschlich starken Explosionen, die mir immer den Frühling als eine unheimliche und grausame Jahreszeit haben erscheinen lassen und manchen blühenden Obstgarten als einen Ort, wo Gewalttätiges vor sich geht. Es war die Liebe, ich sage nicht die große oder die leidenschaftliche, sondern eben die Liebe, als eine unteilbare Größe, eine Primzahl des Lebens, nicht anders anzusehen wie die Massenträgheit eines Weltkörpers oder der genau bemessene Druck in den Kapillaren eines Pflanzenschaftes. Derainaux war meiner Ansicht nach in einer so eindeutigen Lage nicht, wenn er es auch vielleicht selbst geglaubt hat. Er unterlag irgendeiner Form der Bezauberung, ich neige sogar dazu anzunehmen, daß es die Bezauberung durch das plötzliche von außen Herantreten einer in ihm, als Franzosen, fertig liegenden Vorstellung vom deutschen Mädchen, vom deutschen Gretchen war, aus französischer Distanz gesehen, sozusagen . . . wir sind immer glücklich, wenn wir einen Typus richtig ausgefüllt und verwirklicht erblicken, wir wünschen uns den Engländer so englisch, den Wiener so wienerisch wie nur möglich, als ein Zeugnis einer eben doch und trotz allem noch in der Welt herrschenden Ordnung ... Nun, durch Marianne, wie sie damals war, wurde eine solche Weltordnung erstaunlich und entzückend bestätigt. Und Derainaux blieb also in Leipzig, wo er längst nichts mehr zu suchen hatte, Monat um Monat, er mietete ein Atelier und begann zu arbeiten. Ich fühlte sehr deutlich damals, daß dies alles für Derainaux, den Künstler, sein ›deutsches Erlebnis‹ war, durchaus dieses, nicht weniger, nicht mehr. Ja, ich sage da: ›mehr‹. Nun, eigentlich kann es ja ›mehr‹ überhaupt nicht geben, mehr als ein Erlebnis nämlich . . .«
    Mit jenem Mangel an Eitelkeit des Worts, der seinem reifen männlichen Alter geziemte, unterbrach Robert Veik die Rede, er vergaß durch ein Weilchen weiterzusprechen und ließ gleichsam den Faden sinken, welchen er spann. Sein wohlwollendes schweres und starkes Gesicht, dessen Züge zumindest einmal dieses Eine aussagten, daß er nicht unrühmlich nach einer ausgeglichenen Weise, dieses unser Leben zu sehen, gerungen hatte (und welchen besseren Ruhm, frage ich, kann ein erwachsener Mann gewinnen?), sein Gesicht überzog sich mit jenem Gewölk der Nachdenklichkeit, das die Götter jedem um die Stirn gießen, dem plötzlich ein längst Bekanntes ganz neu erscheint und dessen Antlitz sich nach innen zurückwendet, zur Einsicht.
    »Es gibt Lagen im Leben«, sagte er, endlich wieder fortfahrend, »in welchen man ein Kommendes voraussieht, ohne doch abwehrend zu handeln; jedoch unterbleibt dieses nicht aus Lässigkeit oder weil man es von Weile zu Weile hinausschiebt, und bei schlechtem Gewissen: letzteres fehlt sogar ganz dabei, wodurch sich anzeigt, daß die Lähmung, unter der wir stehen, einen tieferen, oder, wenn man so sagen will, höheren Ursprung hat. Tritt aber dann das vorausgesehene Ereignis unter den vorausgesehenen Umständen endlich und wirklich ein: so erhebt sich in uns eine Art von Rechtsanspruch, das für ungültig anzusehen, weil wir es doch längst vorweggenommen. Am deutlichsten zeigt sich das bei trivialen Kleinigkeiten. Das Glas am Rand des Tisches, von dem wir wissen, es werde fallen – und zwar durch genügend lange Augenblicke wissen, um das noch zu verhindern – wird doch nicht ergriffen und an einen sicheren Platz gestellt; indessen, die bald danach am Boden liegenden Scherben wollen wir gleichsam, wegen des gehabten Vorwissens, gar nicht anerkennen. Man könnte diese Erscheinung rational so erklären, daß in jedem Menschen eine entfernte Erinnerung lebt an jenen Zustand, da er noch nicht geboren und abgetrennt, sondern tatsächlich nur ein Bruchteilchen oder Atom Gottes war. Dessen vorstellende Kraft oder Phantasie ist aber so übermächtig, daß sie bei jeder Regung auch gleich die Materie mitreißt, bewegt und formt, hemmt oder zerschlägt. Der Mensch hat nun von seiner hohen Abkunft allermeist nur – die Ansprüche behalten, nicht die Fähigkeiten. Und jene Ansprüche melden sich

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