Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
rief. An jenem Tage wanderte ich nicht lange alleine. Marion aus dem Chiemgau und Carla aus Düsseldorf waren von nun an meine Weggefährten. Carla befand sich in einer schlechten Verfassung, wie ich schnell feststellte.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte ich sie.
»Ich habe ein schlechtes Gewissen wegen meiner Freundin Gertrud. Wir sind gemeinsam in Pamplona gestartet. Wegen einer Verletzung an ihrem Bein kann sie nicht weitergehen. Im letzten Ort, wo wir verabredet waren, haben wir uns unabsichtlich verpasst.
Ich weiß im Moment wirklich nicht, was das Beste ist. Ob ich weitergehen oder im nächsten Ort auf sie warten und bei ihr bleiben soll.«
»Ich denke, dass du die richtige Entscheidung getroffen hast. Ihr könnt euch doch an bestimmten Orten treffen und dort in den Herbergen gemeinsam übernachten. Vielleicht fühlt sich deine Freundin in ein paar Tagen besser, sodass ihr wieder zusammen wandern könnt. Und schließlich hat jeder das Recht seinen eigenen Weg zu gehen. Es hilft deiner Freundin nicht weiter, wenn du neben ihr sitzt und mit ihr leidest.«
»Ja, wahrscheinlich hast du recht. Es hilft ihr nicht im Geringsten weiter, wenn ich meinen Weg nicht weitergehe.«
»Ich glaube, dass es sie eher noch mehr belasten würde, wenn sie feststellt, dass sich wegen ihrer Verletzung auch noch ihre Freundin beeinträchtigt fühlt.«
Mittlerweile erfreute uns die Sonne mit ihren wärmenden Strahlen. Felder, in denen unzählige knallrote Mohnblumen mit ihrer Farbenpracht prahlten, säumten den Weg. Ich mochte die Gesellschaft der beiden. Sie legten ein hohes Tempo vor, dem ich mich an diesem Tage gerne anschloss. Wenn Carla, 62jährig, klein, fünfzig Kilogramm Körpergewicht, mit ihrem riesigen Rucksack vor mir ging, verspürte ich einen gehörigen Respekt vor dieser Frau. Marion, die mit ihrem bezaubernden Lächeln jedes Herz erwärmen konnte, erzählte von ihrem Ehemann Hansi, der ein Jahr zuvor verstorben war. Ich sagte, dass ihr Hansi sie wahrscheinlich auf der Pilgerschaft begleiten würde, und erzählte von Angelika und dem Gefühl, sie manchmal an meiner Seite zu wissen. Marion lächelte. »Du wirst es nicht glauben, schon einige Male habe ich auf einem Stein oder einer Wand ,Buen camino Hansi’ oder ,alles Gute Hansi’ gelesen. Da fühlte ich, dass er bei mir war.« Ich musste schmunzeln, an Bernds Aktivitäten denken, und freute mich gleichzeitig für Marion, die glücklich über die Botschaften war, die ihr Kraft und Hoffnung gaben. War es wichtig, wer oder was die Nachricht gesendet hatte? Ich war der festen Überzeugung, dass ihr Hansi sie begleitete und beschützte.
Auf einer Bank rasteten wir. Marion genoss ihre obligatorische Zigarette. Während wir unsere Brote verspeisten, näherten sich aus der Ferne vier große Hunde. Vorsichtshalber nahm ich einen Wanderstock in die Hand. In meinem Reiseführer hatte ich gelesen, dass Stöcke durchaus hilfreich gegen aufdringliche Hunde sein können. Marion und Carla waren der Meinung, dass ich die Stöcke nicht benötigen würde, was sich auch bestätigte. Nachdem wir den Rastplatz verlassen hatten, liefen die Hunde zur Bank, um Ausschau nach Speiseresten zu halten. Das war der Grund für ihr Erscheinen. Sie waren harmlos.
Seltsamerweise musste ich an jenem Tag öfters an Bernd und Yajaira denken. Warum und weshalb wusste ich nicht. Sie kamen mir immer wieder in den Sinn. Zwei Wochen waren seit unserem Abschied in Lorca vergangen.
Neben einer Kapelle lag Angelika, die Doppelgängerin meiner verstorbenen Frau, im Gras. Ihre Augen waren geschlossen, sie wirkte entspannt. Kurz überlegte ich, sie anzusprechen, verwarf den Gedanken jedoch gleich wieder, weil ich der Überzeugung war, dass sie alleine sein wollte. Angelika vermittelte den Eindruck, ihren Weg ohne Begleitung bewältigen zu wollen. Das respektierte ich natürlich. Wenn ich mit irgendeinem Menschen Kontakt haben wollte oder sollte, dann würde dies auf die eine oder andere Weise geschehen. So, wie es war, war es richtig. Ich ließ es einfach geschehen. Natürlich gab es Menschen, mit denen ich nicht gleich Freundschaft schließen würde.
In Sahagún gingen wir in ein Restaurant und tranken Kaffee. Während wir über Carlas Problem mit Gertrud redeten, stockte uns plötzlich der Atem. Als wenn es das Normalste auf der Welt wäre, erschien ihre Freundin im selben Augenblick. Sie kam humpelnd mit einem verbundenen Knie und schmerzverzerrtem Gesicht auf unseren Tisch zu. Carla stellte
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