Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
Rührung Tränen in die Augen.
Fleißige Hände hatten währenddessen das Abendessen zubereitet, das wir an einer langen Tafel einnahmen. Eine Pilgerin sprach ein Gebet. Ich erfreute mich an der heißen Suppe und verzichtete an diesem Abend auf Wein. Wieder mal saßen Menschen aus allen Kontinenten dieser Erde gemeinsam an einer Tafel und speisten.
Nach dem Essen spazierte ich zum nahegelegenen Fluss und genoss die sanfte Abendstimmung, die im Begriff war, einen Teppich des Friedens übers Land auszubreiten. Nachdem ich meine Wäsche, die fast trocken war, von der Leine genommen hatte, putzte ich meine Zähne und ging zu Bett. Mitten in der Nacht wurde ich wach und entdeckte einen Stern, der durch ein kleines Fenster ins Innere der Kirche strahlte. Es war etwas Besonderes, in dieser Kirche zu nächtigen. Sogar das Schnarchen einiger Pilger klang andächtig.
Bis ich von den üblichen morgendlichen Geräuschen geweckt wurde, schlief ich tief und fest. Gegen halb sieben stand ich auf, zog mich an, packte meinen Rucksack und setzte mich an den gedeckten Tisch. Lino hatte einen wunderbaren, starken italienischen Kaffee zubereitet. Dazu reichte er Brot und Marmelade. Neben der Tür auf einem Holztisch stand das aus Karton gefertigte Modell einer Kirche. In der Mitte befand sich ein großer Schlitz. In vier Sprachen war zu lesen: »Gib, was du kannst, oder nimm, was du brauchst.« Ein Pilger, der neben mir stand, öffnete den Karton, um einen Blick zu erhaschen. Nicht wenige Banknoten und einiges an Kleingeld offenbarte uns die nicht alltägliche Kasse. Ich entrichtete meinen Obolus, verabschiedete mich von Lino, den ich in mein Herz geschlossen hatte, und verließ eine Einrichtung, die von außergewöhnlichen Menschen zu einem Heim der Liebe gemacht worden war.
Meine Stimmung an diesem Morgen hätte besser nicht sein können. Die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel. Von einem Feldweg, der leicht anstieg, konnte ich den weiteren Weg hinter einer Anhöhe nicht einsehen. Der Weg erweckte den Anschein, geradewegs in den Himmel zu führen. Bei diesem Anblick wurde mir bewusst, dass der Jakobsweg ein Weg zu Gott ist. »Wir gehen zu Gott«, kam mir in den Sinn. In einem Buch habe ich gelesen, dass die Menschen nach Jerusalem zum Grab von Jesus Christus, nach Rom zum Papst und nach Santiago de Compostela zu sich selber pilgern würden. Ich bekam immer mehr den Eindruck, dass sie auf dem Jakobsweg zum Göttlichen pilgern. Den Pilgern wird auf dem Jakobsweg Heilung, Reinigung und Klärung zuteil.
Nach zwei Stunden hätte ich auf der Stelle einschlafen können. Ich machte eine Pause, führte meinem Körper reichlich Wasser zu und aß meine letzten Kekse. Die Müdigkeit blieb. Ich beschloss, mich bis zur nächsten Herberge durchzukämpfen, ins Bett zu legen und zu schlafen. In Frómista kaufte ich Bananen und Schokolade, die ich sogleich auf einer Bank verzehrte. Während der Rast fühlte ich neue Kräfte in mir aufsteigen und setzte meinen Weg fort. Die ersten Meter waren noch mühsam, doch dann lief es ganz gut.
In Villalcázar de Sirga feierten die Menschen den Pfingstsonntag.
Weil ich mich mit einem Gläschen Rotwein stärken wollte, ging ich in ein Restaurant, das voller Menschen war, und schaute mir interessiert die Gesichter der Einheimischen an. Bis Carrión de los Condes waren es noch sechs Kilometer. Trotz meiner anfänglichen Müdigkeit hatte ich achtundzwanzig Kilometer zurückgelegt. Ein wenig erfüllte es mich mit Stolz, dass ich nicht gleich aufgegeben, sondern mich aufgerafft hatte und mit neuen Kräften weiter gewandert war. Ich stellte fest, dass weit mehr Reserven in mir waren als in vergangenen Tagen in Phasen von Müdigkeit und Niedergeschlagenheit. Das berühmte »Licht am Ende des Tunnels« konnte ich während depressiver Zeiten nicht sehen. Meine Erfahrungen der letzten Jahre hatten mir aufgezeigt, dass es immer einen Ausweg aus der Dunkelheit gibt. Im Problem selbst liegt die Lösung.
Ich versuche bewusst positiv zu denken, weil mir klar ist, dass die größte Verseuchung auf unserer Erde die geistige ist. Der Ursprung allen Übels sind negative Gedanken. Was soll schon dabei herauskommen, wenn Menschen schlecht über andere oder sich selbst denken? Frieden entsteht in den Köpfen der Menschen, in ihrem Denken. - Es war Zeit weiterzugehen. Ich nahm meinen Rucksack und die Stöcke und verließ das Lokal.
Hinter einem Buckel erblickte ich in der Ferne das kantabrische Küstengebirge, auf dem
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