Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
Frühstück entsprechend lange. Michael verspürte keine große Lust, am heutigen Tage eine größere Distanz zurückzulegen. Mir reichten die vielen Kilometer der letzten beiden Tage ebenfalls. Die ersten acht Kilometer wanderten wir vorbei an Vororten und Industriegebieten, bis La Virgen del Camino. Nun führte ein Weg, der vier Kilometer kürzer war, an der Nationalstraße vorbei und ein weiterer übers Land, der als landschaftlich sehr schön beschrieben war. Michael, wie auch ich, stellten keine großen Überlegungen an, auf der vielbefahrenen Straße zu bleiben. Hin und wieder bot sich uns eine grandiose Aussicht auf das entfernte Küstengebirge.
Christa aus Hamburg, die in Le Puy, Frankreich, auf ihre Pilgerschaft gestartet war und schon viele Kilometer mehr als wir zurückgelegt hatte, schloss zu uns auf. Christa, blond, sportliche Figur, nicht weit über die sechzig, strahlte Kraft und Selbstbewusstsein aus. Sie forcierte von nun an unser Tempo. Ich hatte ernsthafte Schwierigkeiten, dem Tempo meiner Wegbegleiter auf den letzten Kilometern zu folgen, und war heilfroh, als wir in die erste Herberge am Ortseingang von Mazarife eintraten.
Die Hospitalera, eine bildschöne Brasilianerin, erklärte uns in allen Einzelheiten, dass wir ein Abendessen im Hause einnehmen und unsere Wäsche in einer Waschmaschine reinigen könnten, wo sich Geschäfte im Ort befinden und was Pilger sonst noch wissen sollten. Im Schlafsaal kam mir Papa Brasil entgegen: »Hola mi Amigo«, begrüßte er mich und streckte seine Arme aus. Von diesem Tage an wurde er von allen nur noch »Papa Brasil« genannt. Der Name passte zu ihm. Irgendwie war er der Papa unter den Pilgern. Wilma, Javier und Lazarus vervollständigten das Gruppenbild. Es hatte sich so etwas wie eine Pilgerfamilie gebildet, die sich immer wieder, wenn auch nicht jeden Tag, traf. Während ich mein Lager einrichtete, lernte ich Ida, eine kleine Frau mit fröhlichen Augen, aus Österreich kennen. Wir unterhielten uns kurz.
Nach dem Duschen löste ich das Versprechen ein, meine Wanderschuhe zu putzen. Neben Christa, die sich vor der Herberge auf einem Stuhl in der Sonne aalte, begann ich mit dem Reinigungsprozess. Weil Christas Schuhe gegen eine Reinigung ebenfalls nichts einzuwenden hatten, putzte ich diese gleich mit.
Beim Abendessen saß ich mit elf Peregrinos aus acht Nationen an einem langen Holztisch. Brasilien, Holland, Spanien, Kanada, Belgien, Italien, Deutschland und Amerika waren vertreten. Wir erfreuten uns an einer ausgezeichneten Paella und einer friedvollen Atmosphäre. Ich empfand es als Glücksfall, neben Papa Brasil zu sitzen. Mir gegenüber entdeckte ich ein neues Gesicht, das zu Andrea, einem gut aussehenden Italiener, der Traum aller Schwiegermütter, gehörte. Er verwöhnte uns nach dem Abendessen mit seiner meisterlichen Stimme und gab seine Gesangeskünste zum Besten. Bevor ich zu Bett ging, genoss ich den außergewöhnlichen Ausblick auf das schneebedeckte Küstengebirge. Zartrosa Wolken zierten den Himmel. Als ich im Bett lag, empfand ich Dankbarkeit für die nicht alltäglichen Begegnungen mit den Menschen und den einzigartigen Naturlandschaften.
Der Abschied von Fabiana, der brasilianischen Hospitalera, und Mazarife fiel mir schwer. Es war ein sonniger Tag, angenehm warm. An diesem Tage wollte ich bewusst langsam gehen. Ein stetiges Gequake, das von Fröschen aus dem Kanal herrührte, der sich neben dem Feldweg befand, begleitete mich. Hin und wieder setzte sich ein Vöglein auf einen der wenigen Bäume, die den Weg säumten, und trällerte ein himmlisches Lied in den Morgen. Von den grünen Weiden blickten mich zufriedene Rinderaugen an. Mein Gesang schien sie nicht zu begeistern. Sie schauten eher gleichgültig. Vielleicht waren sie bessere Darbietungen gewöhnt. Es waren spanische Rinder und in ihrem Heimatland gab es qualitativ hochwertige Musik. Wahrscheinlich Flamenco-Fans, dachte ich und lachte. Ein Storch legte eine elegante Landung auf dem Acker hin.
Auf einer Mauer rastete ein älteres Paar. Der Mann bot mir von seinem Kraftfutter an, was aus Nüssen und getrockneten Bananen bestand. Sie waren aus Australien und begeistert von dem Jakobsweg. Auf dem Camino befanden sich überwiegend offenherzige und liebenswürdige Menschen. Es spielte keine Rolle, aus welchem Land sie angereist waren, welche Muttersprache die ihre war, alle waren sie gleich. »Gleich, gleich und nochmals gleich«, wiederholte ich in Gedanken. Und sie waren
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