Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
noch Schnee lag. Es ging stetig bergauf, ich sehnte mich meinem Tagesziel entgegen. Meine Beine fühlten sich nun schwer an. Um sieben erreichte ich Carrión de los Condes. Vor der ersten Herberge stand auf einer Schiefertafel: »Voll besetzt«. So ging ich wieder einmal ins Kloster, wo noch ausreichend Betten frei waren.
Ich verspürte einen Mordshunger. Die Restaurants im Ort waren entweder brechend voll oder öffneten später. Mit mir waren etliche Peregrinos auf der Suche nach einem freien Abendbrottisch. In einem Restaurant entdeckte ich eine deutsche Pilgerin und ihren spanischen Partner, mit welchen ich Tage zuvor eine kurze Konversation geführt hatte. Sie boten mir einen Platz an ihrem Tisch an, an dem sich ein weiterer junger Spanier befand. Als er erfuhr, dass mein Name Manolo und ich zudem Deutscher war, verfiel er in ein lautes Lachen. Das war zuviel für ihn, einfach unglaublich. Ich erklärte den Ursprung meines Namens.
Die Pilgerin übersetzte mir, was ich nicht verstand. Der junge Spanier feierte feuchtfröhlich seinen Geburtstag. Meine Tischgenossen empfahlen mir eine Gemüsesuppe, dazu Tortilla und Chorizo. Wir erfuhren, dass der Onkel des jungen Spanier vor kurzem im hohen Alter verstorben und mit den leuchtenden Augen eines Kindes von dieser Welt geschieden war. Während die Deutsche mir dies erzählte, entdeckte ich in den Augen des Geburtstagskindes eben dieses Leuchten, was er beschrieb. Es ist ein großes Geschenk, bis ins hohe Alter kindliche Unbekümmertheit, vorbehaltloses Staunen und das Wundern in sich bewahren zu können.
Das Restaurant leerte sich schlagartig kurz vor zehn. Leider löste sich somit auch unsere fröhliche Runde auf. Wir zahlten und gingen zum Kloster. Ich putzte meine Zähne und legte mich in meine »Hängematte«. Matratze konnte ich das Ding, welches sich unter mir befand, nicht nennen. Anscheinend hatte sie schon viele Menschen betten müssen. Nun war sie müde und beugte sich unter den Gewichten. Mitten in der Nacht weckte mich ein lauter Schnarcher. Pilger versuchten ihn immer wieder mit Husten und anderen Geräuschen zu bremsen.
Glücklicherweise gab es immer wieder einen Morgen danach, an dem auch die Schnarcher nicht zu beneiden waren, weil sie sich manch einem bösen Blick ausgesetzt sahen. Nach einer kurzen Morgentoilette machte ich mich auf in einen neuen Tag. Es war ein ganz besonderer, der Geburtstag meiner Tochter Ramona, der ich diese Tagesetappe widmete. Ich wollte diesen Tag für sie gehen. Nach dem Frühstück startete ich mit der freudigen Gewissheit, die Hälfte der achthundert Kilometer bis Santiago bereits bewältigt zu haben. Paolo aus Italien mit seiner Schweizer Begleiterin, die zu mir stießen, erzählten mit sichtlicher Freude, dass ihr Freund Renato dabei war, ein Haus in einem kleinen Ort am Jakobsweg zu kaufen. Leichter Regen setzte ein. Die tiefschwarzen Wolken, die langsam auf uns zutrieben, versprachen mehr Regen, viel mehr Regen. Ich zog mein Regencape über, ließ meine Regenhose jedoch noch im Rucksack. An einer Tankstelle gab es letztmals die Möglichkeit der Wasseraufnahme. Auf den folgenden sechzehn Kilometern erwarteten mich nichts als Weg und Felder. Paolo und seine Begleiterin zogen davon.
Ich dachte oft an meine Tochter, betete für sie und schickte ihr Segen nach Deutschland. Der Regen wurde stärker. Meine Hose war pitschnass. Nun bereute ich, meine Regenhose nicht angezogen zu haben. Vor mir lag ein Weg, der in meiner Erinnerung fest verhaftet bleiben würde. Ein steiniger Weg. Das flache einsame Land der Tierra des Campos erlegte mir einige Prüfungen auf. Ohne zu rasten wanderte ich schneller. Manchmal wechselte ich die Seite, um den dicksten Steinen auszuweichen. Vereinzelt begegneten mir Pilger, die von Kopf bis Fuß in Regenschutz gehüllt waren.
Auf diesem Weg, an jenem Tag, öffnete das Schicksal seine unergründeten Tore, ohne dass es den Beteiligten bewusst war. Rechter
Hand entdeckte ich Bänke, die bei Trockenheit ein komfortabler Ruheort gewesen wären. Sie erinnerten mich daran, Nahrung zu mir zu nehmen. Ich nahm mein Brot aus der Jackentasche und biss hinein. Nach und nach weichte der Regen es auf.
Irgendwie verspürte ich, dass dieser Wegabschnitt auf eine spezielle Art wichtig für mich war. Ich fühlte eine zunehmende Stärke und Geduld. Dennoch stellte ich mit Besorgnis fest, dass meine Wanderschuhe innen feucht wurden. Ich wusste, dass sich Blasen an den Füßen bilden können, wenn die Schuhe
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