Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
uns vor. Gertrud setzte sich und bestellte ebenfalls Kaffee. Ich fühlte die Spannungen zwischen den beiden Frauen, es knisterte. Ein emotionales Gespräch folgte. Alle am Tisch weinten. Niemand machte dem anderen irgendeinen Vorwurf. Was zwischen ihnen stand, waren lediglich Missverständnisse, sonst nichts. Ich bekam den Eindruck, dass es kein Zufall war, dass die beiden in jenem Restaurant aufeinandergetroffen waren. Gertruds größte Pein war die Enttäuschung, nicht weitergehen zu können. Heftige Schmerzen in ihrem Knie, deren Ursprung in einer früheren Verletzung lag, hinderten sie am Wandern. Ich hielt ihr vor Augen, dass sie trotz ihrer Verletzung schon 350 Kilometer bewältigt hatte, eine unglaublich starke Leistung. Eine größere Leistung, als wenn ein Mensch mit gesunden Gelenken den ganzen Weg zurücklegt.
Nachdem alle Missverständnisse aus dem Weg geräumt waren, entschlossen sich Marion und Carla in Sahagún, bei Gertrud zu bleiben. Beim Abschied drückten wir uns herzlich. Ich ging hinaus, musste weinen und sagte: »Danke, lieber Gott, dass ich helfen durfte.«
Mit Hilfe meines Reiseführers errechnete ich, dass schon 23 Tageskilometer hinter mir lagen. Von nun an fühlte sich mein Gehen leicht an. Meinen Rucksack spürte ich kaum. In Bercianos del Real Camino überlegte ich, dort zu übernachten. Mittlerweile hatte ich weitere 11 Kilometer geschafft. Doch ein unbestimmtes Gefühl trieb mich weiter. Und ständig musste ich an Bernd und Yajaira denken. Kurz nach sieben erreichte ich das Ortseingangsschild von El Burgo Ranero.
Ich folgte den gelben Markierungen bis zur Herberge, wo der Herbergsvater mich mit einem Blick auf seine Armbanduhr empfing. Gestenreich teilte er mir mit, dass um zwei schon sämtliche Betten belegt gewesen waren. Auf dem Fußboden in einer Ecke bot er mir einen Platz zum Schlafen an. Ich war müde und glücklich, wenigstens ein Dach für die Nacht über meinem Kopf zu wissen. Während der Herbergsvater meinen Pass abstempelte, kam plötzlich Bernd auf mich zu. Meine Freude war unbeschreiblich. »Seit heute morgen habe ich an nichts anderes als an dich und Yajaira denken können«, brach es aus mir heraus.
»Schön dich zu sehen, Mano, wie geht es dir?«
»Gut! Wo ist Yajaira?«
»Das weiß ich nicht, sehr wahrscheinlich mit einem unserer Freunde in ein Gespräch vertieft. Wir haben uns oft gefragt, ob wir dich noch einmal wiedersehen würden.«
»Anfangs seid ihr schneller als ich gegangen. Irgendwann bin ich längere Etappen gewandert. Ich muss erst mal was essen. Gibt es ein Restaurant hier im Ort?«
»Ja, nicht weit entfernt von hier, auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet sich ein Restaurant, in dem wir heute Nachmittag gegessen haben.«
»Danke, dann bis später.«
Ich stellte meinen Rucksack ab und ging zum Restaurant, wo ich auf weitere Bekannte traf. An einem großen Tisch begrüßte ich Norman, den englischen Polizisten und, zu meiner großen Freude, Papa Brasil. Ich setzte mich ans Kopfende und fühlte mich sofort wohl in ihrer Runde. An diesem Abend lernte ich Wilma aus Holland und Javier aus Barcelona kennen. Neben mir saßen zwei Mitzwanzigerinnen aus Alaska. Die Runde komplettierten zwei hübsche blonde Frauen aus Irland.
Mir fiel die Gabel vor Freude aus der Hand, als plötzlich Yajaira neben mir stand. Wir drückten einander herzlich. Nach kurzem Austausch gab ich mich wieder den kulinarischen Genüssen hin. Wir würden uns in der Herberge später ausführlicher unterhalten können. Es war ein wunderschöner Abend. Meinen Berechnungen zufolge hatte ich 42 Kilometer zurückgelegt. Die längste Etappe bisher, was mich ein wenig mit Stolz erfüllte.
Vor der Herberge fand ich Yajaira mit einer grauhaarigen älteren Frau in ein Gespräch vertieft. Bis die Pforten geschlossen wurden, tauschten wir unsere Erlebnisse aus, die nicht selten Verwunderung hervorriefen. Bernd saß am Internet, checkte Mails von seinen Kindern und Freunden. Yajaira erzählte mir, dass die Herberge bereits ausgebucht gewesen war, als sie am Nachmittag eingetroffen waren. Doch wie es die Vorsehung wollte, machten sie im Restaurant Bekanntschaft mit dem Bürgermeister, der ihnen eine Schlafgelegenheit in seinem Haus angeboten hatte. Der Camino schreibt schöne Geschichten. Bevor Bernd und Yajaira sich aufmachten, im Haus des Bürgermeisters zu übernachten, halfen sie mir bei der Suche nach einer Isomatte, weil ich keine mit mir führte.
Neben mir auf dem Boden lag ein
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