Ein orientalisches Maerchen
war auch nicht allein, Assad war bei ihm. Die beiden kamen offensichtlich von einem Ausritt zurück, denn sie trugen noch Reitkleidung.
„Amina, shnoo hada?“, fragte Assad seine Frau, die laut aufschluchzte und heftig gestikulierend auf Arabisch weiterredete. Woraufhin aus dem Haus eine andere Stimme – Halimas? – schallte.
Jetzt stürmte Gerard auch schon voran, seine Augen funkelten nur so vor Zorn. Im Vorbeilaufen rief er Assad etwas auf Arabisch zu, dann riss er die Tür auf und stürzte ins Haus. Keine fünf Minuten dauerte es, dann herrschte Ruhe. Als Gerard wieder herauskam, trug er die kleine, knapp fünfjährige Tochter Halimas. Amina streckte gleich die Arme aus nach ihrer kleinen Nichte, und Gerard gab sie ihr. Erschrocken bemerkte Kit, dass er am Knöchel seiner rechten Hand blutete, als hätte er sich bei einem Kampf verletzt.
„Gerard …?“
„Einen Moment.“ Er sah sie kurz an und sprach dann eine Weile mit Assad und Amina, ehe diese mit dem Kind zurück ins Haus gingen.
„Gerard?“ Zaghaft berührte Kit ihn am Arm, und er wandte sich um. In seinem Blick lag eine Mischung aus Entsetzen und noch nicht verrauchtem Zorn, die sie erschrecken ließ.
„Der Kerl ist wahnsinnig!“, stieß er kopfschüttelnd hervor. „Diesmal ist er total durchgeknallt. Zeugt Kinder, und dann vergreift er sich an ihnen! Assad und Amina, sie wären die geborenen Eltern – und bei denen klappt’s nicht mit dem Kinderkriegen! Das will mir einfach nicht in den Kopf. Schon das letzte Mal hatte ich ihn gewarnt. Jetzt habe ich die Polizei gerufen.“
„Gerard, willst du damit sagen, dass Abou seine Familie geschlagen hat?“ Kit hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da spürte sie schon, wie langsam der dunkle Vorhang in ihrem Kopf zerriss.
„Ja, hat er!“ Gerard war immer noch aufgebracht. „Eigentlich hätte ich ihn schon längst in die Wüste jagen sollen. Aber ich fühlte mich für seine Familie verantwortlich, und deshalb habe ich ihm Arbeit gegeben. Amina und Assad hatten auch immer ein Auge auf ihn. Und Assad ist auch noch der Bruder dieses Irren. Das ist doch nicht zu fassen, oder?“ Er sah Kit an und spürte, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Ihr Blick war glasig, und alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. „Das geht dir wohl sehr nahe.“
Colin. Ihr Stiefvater Colin. Mit einem Mal war alles wieder da. Sie erinnerte sich. Wusste, warum die Schreie von Halimas Tochter sie so erschreckt hatten. Sie hatte auch so geschrien – vor Schmerz. Zehn lange Jahre hatte sie nur in Angst gelebt vor diesem Kerl, dem zweiten Ehemann ihrer Mutter. Ihr leiblicher Vater war gestorben, als sie fünf gewesen war, und nur wenige Monate später hatte ihre Mutter schon wieder neu geheiratet. Vom ersten Moment an hatte Kit ihren Stiefvater gefürchtet und gehasst, genau wie er sie, weil sie ihm einen Teil der Aufmerksamkeit seiner Frau entzog. Zuerst hatte ihre Mutter noch versucht, sie vor ihm zu beschützen, vor seinen Schlägen, seinen seelischen Grausamkeiten. Aber irgendwie war sie dem Mann hörig gewesen, und bald hatte auch sie ihr eigenes Kind vernachlässigt.
Kit atmete tief durch. Es war so viel, das mit einem Mal auf sie einstürzte. Und es tat so schrecklich weh.
Ihre Mutter eine rassige Schönheit, er ein männliches Prachtexemplar. Seinen Charme konnte er je nach Laune an- und ausknipsen wie eine Lampe. Und ihre Mutter fügte sich seiner Dominanz, erfüllte all seine sexuellen Forderungen, ertrug seine ständig wechselnden Stimmungen und seine Arroganz. Kit war oft über Tage, Wochen, sogar Monate in ihrem Zimmer eingesperrt – aber wenigstens war sie da vor ihm sicher und wurde nicht beim kleinsten Anlass geschlagen. Am schlimmsten jedoch waren die seelischen Verletzungen gewesen, die er ihr zugefügt hatte. Ständig hatte er mit kleinen Sticheleien auf ihre feingliedrige und in seinen Augen knabenhafte Figur angespielt, dass sie am Ende schon selbst davon überzeugt war, niemals einem Mann gefallen zu können.
Als Colin und ihre Mutter kurz nach ihrem sechzehnten Geburtstag bei einem Autounfall ums Leben kamen, hatte Kit zwar keine finanziellen, aber schwere psychische Probleme. Starken Männern, besonders wenn sie gut aussahen, begegnete sie mit Verachtung. Im Grunde ließ sie sich nur auf Männer ein, die sie weder emotional noch geistig berührten. So war sie sicher, ihnen nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Hatte immer alles unter Kontrolle. Das war ihr bis jetzt noch nie klar gewesen. Aber
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