Ein Ort für die Ewigkeit
Wenn sie versuchen wollte, Scardale im Jahr 1963 zum Leben zu erwecken, hätte sie an gar keinem besseren Ort als hier landen können. Alison Carter war auch so aufgewachsen, daß ihr Eisblumen an der Innenseite ihres Schlafzimmerfensters mitten im Winter nur allzu vertraut waren. Und eine warme, gemütliche Küche, bevor ihre Mutter das alles gegen das Leben im Gutshaus eingetauscht hatte. Catherine hatte nicht vorgehabt, ihre Recherchen bis zu einem solchen Grad der Authentizität zu treiben, aber da es sich ihr so anbot, nahm sie dankbar an. Außerdem war das Häuschen weniger als hundert Meter von Peter Grundys Haus entfernt. Der pensionierte Constable von Longnor würde bestimmt eine wertvolle Informationsquelle sein. Und er würde ihr den Zutritt zum Dorfleben erleichtern. Sie wußte genau, wie unfreundlich man in Dorfpubs oft empfangen wurde, wenn man als Außenseiter galt, und sie fand die Aussicht, sechs Monate ohne Gespräche zu verbringen, nicht verlockend. Selbst wenn die Unterhaltungen sich nur um den Preis des Mastviehs auf dem Markt in Leek drehten.
Bei einem Frühstück mit schwarzem Kaffee und einem Brot mit Speck blätterte sie die fotokopierten Zeitungsausschnitte durch, die sie mühsam im nationalen Zeitungsarchiv in Colindale ausgegraben hatte. Sie würde sie heute kaum brauchen; aber es schadete nicht, sich immer wieder damit zu befassen, damit sie genau wußte, wie sie die Interviews mit George Bennett am besten anginge. Sie hatten verabredet, daß sie sich jeden Vormittag für zwei Stunden treffen würden. Das würde Catherine genug Zeit geben, die Interviews auf den Bändern abzuschreiben, und es würde das Leben der Bennetts nicht zu sehr stören. Sie wollte schließlich nicht, daß sie ihrer ständigen Störungen überdrüssig würden, denn nichts würde Georges Erinnerungen schneller ausdörren als so etwas.
Eine halbe Stunde später fuhr sie durch einen Tunnel winterlicher Bäume in die Mitte des Dorfes Cromford. Sie folgte Georges Angaben, bog beim Mühlenteich rechts ab, fuhr den Hügel hinauf und dann scharf links in die Einfahrt eines Einfamilienhauses. Als sie den Motor abstellte, öffnete sich bereits die Haustür. George stand unter der Tür, eine Hand zum Gruß erhoben. In seiner dunkelgrauen Hose, einer dunkelblauen Strickweste wie von der Airforce und einem hellgrauen Polohemd sah er wie ein Modell aus einem Kleiderkatalog für den reifen Mann aus. Nur eine Pfeife müßte er noch im Mund haben, dachte sie. Ein Vorstadt-Jimmy-Stewart in
It’s A Wonderful Life
für das Publikum über sechzig.
»Schön, Sie zu sehen, Catherine«, rief er.
»Und Sie auch, George.« Sie fröstelte, als sie in den warmen Flur kam. »Ich hatte vergessen, wie beißend kalt es um diese Jahreszeit hier oben sein kann.«
»Es erinnert auch mich an damals«, sagte er und führte sie durch die mit Teppich ausgelegte Diele in ein Wohnzimmer, das dem Ausstellungsraum eines Möbelgeschäfts ähnelte. Alles war elegant, sogar modisch, aber seltsamerweise ohne eigene Note. Sogar die gerahmten Monetdrucke schienen eher belanglos denn ein Hinweis auf einen persönlichen Geschmack. Keine einzige Zeitung störte die sterile Ordnung des Zimmers, das nach einem blumigen Raumspray roch. Wo immer die Bennetts ihren persönlichen Geschmack zeigen mochten, im Wohnzimmer jedenfalls nicht.
»So bitter kalt war es auch, als Alison verschwand«, fuhr George fort. »Es gab mir gleich von Anfang an Hoffnung, daß sie entführt worden war, wissen Sie. Damit gab es eine Chance, sie wieder zurückzubekommen. Ich wußte, daß sie bei solchem Wetter niemals eine Nacht im Freien überleben würde.«
George wies auf einen Sessel, der hart und doch bequem aussah. »Nehmen Sie Platz.« Er ging zu dem gegenüberstehenden Sessel. Catherine bemerkte, daß er automatisch den Platz mit dem Licht im Rücken eingenommen hatte, das jetzt auf sie fiel. Sie fragte sich, ob es die absichtliche Wahl eines Polizisten oder einfach sein normaler Sessel war. Zweifellos würde sie das nach ein paar Sitzungen besser beurteilen können. »Also«, sagte George. »Wie möchten Sie es angehen?«
Bevor sie antworten konnte, kam eine ältere Frau ins Zimmer. Kurzes silbergraues Haar umrahmte ihr Gesicht, das durch die Falten, die ihr die Schmerzen beigebracht hatten, vorzeitig gealtert schien. Sie hielt sich mit der steifen und unbeholfenen Körperhaltung eines Menschen aufrecht, für den jede Bewegung eine quälende Notwendigkeit war. Selbst von der
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