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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
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Kinder kicherten. Démors Gewitztheit imponierte Cécile häufig und ließ sie vergessen, dass ein anderes Wort dafür auch Unverschämtheit lautete. Mit sehr selbstsicheren Bewegungen bediente Audrey den CD -Player.
    »Ich nehm zuerst die 2 «, verkündete sie. »Die macht mehr Stimmung.«
    »Ach so!« Marianne begann zu lachen. »Mit Müller meinst du Madame Muller!«
     
    In der Mitte des Klassenzimmers war eine Art Tanzfläche freigeräumt worden, und sobald
Street Generation
ihren berühmten Hit »Wir machen heute Party« anstimmten, eröffneten Audrey, Lisa und Claire ganz ungeniert den Ball. Verblüfft sah Cécile zu, wie die drei Kleinen exakt die Choreographie der Lolitas wiedergaben, die Hände am Po oder an der Brust und dann den Zeigefinger auf ein imaginäres Publikum gerichtet. Sie mussten den Tanz Dutzende Male geprobt haben, während sie den Clip im Fernsehen gesehen hatten. Eglantine schloss sich ihnen an, weniger präzise, aber dafür sehr sexy.
    Robin steckte den Daumen in den Mund, Tom machte Eglantine hinter ihrem Rücken nach und verrenkte sich. Démor und Toussaint erklärten, sie würden nur Rap mögen, und Louis holte seine Yu-Gi-Oh!-Karten raus, um mit Ines zu spielen. Als die mutigsten Mädchen das romantische
Dieser Junge nahm mein Herz, jetzt hat er es für immer. Sag das aber nicht Mama
sangen, verbuchte Baptiste großen Erfolg bei seinen Freunden, indem er sang: »Dieser Junge nahm mein Herz, für Pipi und für Kacka, sag es aber nicht Papa …«
    Vor lauter Herumhüpfen war Audrey hochrot, und der Schweiß hinterließ Spuren auf ihren rundlichen Wangen. Eglantine, die ihre modische Strickjacke ausgezogen hatte, stand nun im Petit-Bateau-Top da und ließ einen der Träger herunterrutschen. Lisa und Claire bewunderten ganz außer Atem die CD -Hülle. Die vier Lolitas posierten auf dem Bild, die Daumen in ihre Hüftjeans gesteckt oder mit über den Nabel hochgeschobenem Shirt.
    »Welche magst du am liebsten?«, fragte Lisa.
    »Lea«, antwortete Claire.
    »Genau wie ich.«
    Dann sagten beide im Chor: »Die sieht so gut aus!«
    Sie klatschten sich ab, und Cecile fragte sich leicht überfordert, ob das alles eher betrüblich oder einfach nur lustig war.
    Am nächsten Morgen konnte sie es nicht vermeiden, Melanie im Pausenhof zu grüßen. Sie stammelte: »Entschuldigung … gestern … die Musik … ein bisschen laut?«
    »Solche Feste machen wir sonst eher am Ende des Schuljahres«, antwortete Melanie und unterdrückte ein Seufzen.

Kapitel 9 Das von Glück erzählt
    Die Tage wurden kürzer. Auch wenn die Baoulés Spaß daran hatten, Omchen zu necken, blieben sie nach dem Unterricht nicht mehr bei der Hausaufgabenbetreuung. Dafür gab es einen Grund: Die acht Kilometer zwischen der Schule und ihrem Zuhause.
    Monsieur Montoriol wusste, dass die Baoulé-Kinder, nachdem sie auf verschiedene Orte der Stadt verteilt gewesen waren, seit Beginn des Schuljahrs alle in Saint-Jean-de-Cléry zusammengebracht worden waren. Aber er wusste nicht, dass die Kleinen jeden Morgen und jeden Abend mit dem Rucksack auf den Schultern anderthalb Stunden zu Fuß gingen. Sie hatten kein Geld für die Straßenbahn.
    Gut zwanzig Minuten lang liefen sie quer durch die Innenstadt, schielten nach den schönen Dingen in den Schaufenstern oder machten sich über die Leute lustig. Sie selbst blieben nicht unbemerkt. Der zehnjährige Alphonse ging mit unbeteiligtem Gesicht vorweg, als gehöre er nicht zur Sippe. Der neunjährige Felix, der sechsjährige Démor und ihr siebenjähriger Cousin Leon folgten ihm. Sie waren zu allen denkbaren Witzen und Streichen fähig. Dann kam eine Mädchengruppe, Prudence und Pélagie, die unzertrennlichen achtjährigen Zwillingsschwestern, und die gleichaltrige Donatienne, ihre Cousine. Die Schaufenster mit Kleidern entlockten ihnen begeisterte Rufe. Am Ende sah man dann mit schlurfenden Schritten Toussaint, den Zwillingsbruder von Démor, Tiburce, den Zwillingsbruder von Felix, Honorine und Victorine, beide sieben Jahre alt, und als Schlusslicht Clotilde, neun Jahre, die älteste Tochter der verwitweten Madame Baoulé.
    Wenn man von Démor absah, den seine Verbrennungen entstellt hatten, waren alle Kinder prächtig, von schlankem Wuchs und mit wohlgeformter Taille. Ihre Prozession unter den Arkaden der Grande Rue hatte etwas Königliches, und doch waren sie bei genauerem Hinsehen erbärmlich gekleidet. Solange der Sommer sich noch hielt, hatten die kleinen Baoulés der Welt noch etwas

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