Ein Ort wie dieser
vormachen können. Als es kalt wurde, hatten sie Sweatshirts und lange Hosen aus den Koffern holen müssen. Aber das waren die, die man ihnen im Jahr zuvor geschenkt hatte. Die Jogginghose von Toussaint ging ihm gerade bis zur halben Wade, der Rock von Donatienne war völlig aus der Form gegangen, die Schuhe von Leon würden bald den Geist aufgeben, der Pulli von Felix hatte keine richtige Farbe mehr, und Alphonse, der sich weigerte, seine Strickjacke mit Knöpfen (eine Mädchenjacke!) zu tragen, fröstelte in seinem T-Shirt.
Sobald der Supermarkt Auchan in Sichtweite kam, der die Grenze zwischen Stadt und Vorstadt markierte, öffnete Clotilde ihren Rucksack und holte Brot raus. Alphonse an der Spitze machte das Gleiche. Beide klauten mittags Brot in der Kantine, um nachmittags welches zu haben.
»Gib weiter, gib weiter«, sagten die Baoulés untereinander, bis alle versorgt waren.
Manchmal war es einem der Kinder gelungen, etwas anderes einzustecken, einen Apfel, einen Schokoriegel, ein Stück Schmelzkäse. Es teilte dann mit seinem Nachbarn. Der kleine Leon hatte immer größeren Hunger als die anderen. Clotilde plante für ihn die doppelte Brotration ein.
Über eine Strecke von vier Kilometern liefen die Baoulé-Kinder an der Straßenbahnlinie entlang. Es war verboten zu sagen, man würde gern die Bahn benutzen. Wir sind Neger, wir sind zäh. Aber Toussaint und Tiburce schnitten den Fahrgästen, die an ihnen vorüberfuhren, Grimassen, um sich ein bisschen besser zu fühlen. Nach dem Baumarkt Bricoman mussten noch zwei Kilometer zurückgelegt werden, bis sie das Dorf Saint-Jean-de-Cléry erreichten, und es wurde nach und nach ländlicher. Hier ein Obstgarten, den der Herbst entblätterte, dort ein frisch umgepflügtes Feld, über dem Möwen kreisten.
Hier taten Prudence und Pélagie etwas, was sie früher immer getan hatten: Sie setzten sich ihren Ranzen auf den Kopf. Leon zog seine alten Schuhe aus und lief barfuß. Kurz vor dem Schild, das den Ortseingang von Saint-Jean-de-Cléry markierte, kletterte Alphonse die Böschung hinauf und stand auf einem Eisenbahngleis. Alle folgten ihm mit Freudenschreien. Das Haus war nicht mehr weit und damit Mama und Monsieur Baoulé und Baby Eden! Sie brauchten nur noch zehn Minuten den Schienen zu folgen. Das war der lustigste Teil.
Sie balancierten auf einer Eisenschiene oder sprangen von Schwelle zu Schwelle, sie sammelten Schotter, um sich damit zu beschießen, dann spielten sie Zug, und wenn Alphonse Dampf abließ, tschuu, tschuu, waren alle bei den Baoulés angekommen.
Es war ein Haus aus Ziegeln mit Kalksteinen an den Ecken, solide und ganz einfach, so wie Kinder sie gerne zeichnen. Über der verglasten Eingangstür zeigte eine Uhr für immer zehn nach drei. Unter dem Dach hob sich in schwarzen Buchstaben auf weißem Untergrund der Name der Station ab: SAINT - JEAN - DE - CLÉRY . Denn die Baoulés besetzten einen stillgelegten Bahnhof.
Normalerweise wartete eine der beiden Mamas auf dem Bahnsteig auf die Ankunft der Kinder. An diesem Tag stand niemand da, und der Bahnhof, der sich vor einem aufgewühlten Himmel abzeichnete, wirkte plötzlich düster. Leon konnte nicht anders und rief: »Mimami!«
Er war der einzige Sohn der verwitweten Madame Baoulé, und seitdem er seinen Vater, dem vor seinen Augen die Kehle durchgeschnitten worden war, hatte sterben sehen, war er derjenige, der sie schützen musste. Er überholte Alphonse und stieß die Tür auf: »Mimami?«
Da saß sie auf der Bank des ehemaligen Wartesaals. Auch Monsieur und Madame Baoulé waren da, und alle drei redeten mit einer jungen Frau mit blondem, fast weißem Haar. Die kleinen Baoulés erkannten Nathalie vom Verein
Asyl – Solidarität und Hilfe
wieder. Die junge Aktivistin machte ein unzufriedenes Gesicht. Sie war gegen diese Bahnhofsbesetzung. Es war gefährlich, Kinder und Eltern an einem gemeinsamen Ort wohnen zu lassen. Hier könnten sie alle auf einen Streich eingesammelt werden. Monsieur Baoulé wusste, was Nathalie dachte, und schickte die Kleinen rasch ein Stockwerk höher.
»Sie haben also«, fuhr Nathalie fort, als seien nicht gerade zwölf Kinder hereingeplatzt, »immer noch nichts vom Ofpra gehört?«
Sie wandte sich an die verwitwete Madame Baoulé, die vor fast zwei Jahren einen Asylantrag beim Ofpra gestellt hatte, dem Französischen Amt für Flüchtlinge und Staatenlose.
»Ohh, das koomt …«, sagte sie mit ihrer trägen Stimme, die schnell jammerig werden konnte.
Weitere Kostenlose Bücher