Ein Ort wie dieser
betraten. Omchen hatte ihre Lieblinge, die kleinen Mädchen »mit goldigen Gesichtchen« wie Ines oder Eglantine und wohlerzogene Jungen wie Jean-René oder Robin.
»Sie werden die Hauptrolle doch wohl nicht Démor geben?«, fragte sie Cécile.
»Warum nicht?«
»Ja, aber der Arme! Mit seinem verbrannten Gesicht ist er so hässlich!«
Cécile sah sie streng an: »Pssst! Er könnte …«
Obwohl der Junge in der anderen Ecke der Bibliothek stand, hatte er sich umgedreht. Er hatte es gehört. Cécile klatschte in die Hände, um ihre Gruppe um sich zu versammeln.
»Wir lesen eine Geschichte. Setzt euch alle in einen Kreis.«
An diesem Tag nahm Cécile ein Bilderbuch mit großen, in Mondlicht getauchten Bildern.
»Versucht, den Titel zu lesen. Meldet euch!«
Eglantine wackelte mit den Hüften, als sie sagte: »Ich weiß es, ich weiß es!« Aber Cécile ignorierte sie.
»Schaut genau hin. Philippine, hast du etwas gefunden?«
»Da steht
Piraten
drauf.«
»Bravo! Habt ihr alle gesehen, wo
Piraten
steht, Kinder?«
»Jaaaa!«
»Das ist
Max und die Piraten!
«, brüllte Eglantine, die schon fließend lesen konnte.
Baptiste hüpfte von seinem Kissen und rief immer wieder: »Max und die Pipis! Max und die Pipis!« Omchen klappte der Unterkiefer herunter, sie war niedergeschmettert. So was wie diese Klasse hatte die Welt wirklich noch nicht erlebt! Sie zog Baptiste heftig am Arm und drückte ihn zurück auf sein Kissen. Cécile blieb unbeirrt: »Merkt ihr etwas, Kinder? Ihr könnt jetzt richtige Sachen lesen.«
»Ach ja, da steht es«, sagte Marianne langsam.
Und sie entzifferte: »Pi-ra-ten.«
Omchen musterte sie nachdenklich. Wie kam es, dass ein sechsjähriges, nicht sonderlich aufgewecktes Mädchen etwas konnte, was sie selbst nie hatte lernen können?
Nachdem Cécile um 16 . 30 Uhr die Kinder nach Hause gelassen hatte, kehrte sie in ihren Klassenraum zurück, um ihre Sachen zu holen. Als sie vor der Tür der Zweitklässler vorbeikam, sah sie Melanie Muller, die noch an ihrem Pult saß, die Stirn in die Hand gestützt und tief über ihre Hefte gebeugt, die sie gerade korrigierte. Man konnte denken, sie würde jeden Moment zusammenbrechen. Wieder einmal überwand Cécile ihre Schüchternheit und klopfte. Sie wollte sich für den Lärm ihrer Schüler entschuldigen. Aber Melanie war so in die Arbeit versunken, dass sie das Klopfen nicht hörte.
Auf Zehenspitzen betrat Cécile das Klassenzimmer und sah sich fassungslos um. Alle Tische standen ordentlich, nichts lag auf dem Boden. An den Wänden waren in mustergültiger Schönschrift die zehn Gebote der Klasse zu lesen:
Ich darf nicht ohne Erlaubnis reden.
Ich stehe nicht ohne Genehmigung auf.
Wenn ein anderer spricht, unterbreche ich ihn nicht …
Auf einem Regal waren die Heftstapel aufgereiht, blasslila Schutzumschläge für die Grammatikhefte, Gelb für Rechnen, Rot für die Aufgabenhefte. Die Lerneinheit über männliche und weibliche Substantive war noch nicht von der Tafel gewischt worden, und Cécile konnte eine saubere, klassische Schreibschrift ohne eine einzige durchgestrichene Stelle oder Unsicherheit bewundern. Melanie hatte das Klassenbuch aufgeschlagen gelassen, in das sie die Arbeit des Tages notierte und dabei jedes Fach rot unterstrich und jedes erreichte Lernziel mit gelbem Textmarker einfärbte. Eiskalte Perfektion.
Cécile wollte durch ein Räuspern ihre Anwesenheit deutlich machen, aber kein Geräusch drang aus ihrer Kehle. Melanie stieß einen tiefen Seufzer der Erschöpfung aus, und Cécile begriff in diesem Moment, was es bedeutete, sich »totzuarbeiten«. Sie ergriff die Flucht.
Kapitel 8 Zu Ehren von
Street Generation
Audrey hatte ihren Eltern eine große Neuigkeit zu verkünden. Sie war am nächsten Mittwoch von 14 bis 18 Uhr zu Eglantines Geburtstag eingeladen. Eglantine hatte ein Schwimmbad und eine Karaoke-Anlage. Sie würden viel Spaß haben.
Die Cambons saßen bei Tisch: Brandon, vierzehn Jahre, den Kopf zwischen den Schultern, Madame Cambon, die von den un-glaub-li-chen Gemüsepreisen redete, Monsieur Cambon, der mit lautem
Schlürf!
seine Suppe hinunterschlang, und Audrey vor dem Fernseher. Es war gerade Zeit für die Sendung
Dein Star zu Besuch.
»Das ist also Julies Zimmer?«
, fragte eine Off-Stimme.
Die Kamera erforschte gerade das Zimmer eines kleinen Mädchens. Mit einer Mischung aus Schüchternheit und höchster Befriedigung führten Julies Eltern durch ihr Einfamilienhaus.
»Die Fotos von Lorie hat
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