Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
Vom Netzwerk:
»Meine Kleine ist Französin …«
    Sie zeigte auf Eden, ein hübsches braunes Püppchen von achtzehn Monaten, das auf einer Matte schlief.
    »Aber nein, Madame Baoulé!«, widersprach Nathalie erregt. »Ein in Frankreich geborenes Kind ist nicht Franzose. Das sind falsche Vorstellungen, die wir nicht aus Ihrem Kopf kriegen!«
    Nathalie verbrachte die Zeit damit, diejenigen anzuschreien, denen sie eigentlich half. Sie wandte sich an Monsieur Baoulé: »Und ich bin mir sicher, dass Sie Ihre Frau geschwängert haben, weil Sie glauben, das würde Ihnen nutzen! Aber nein, nein! Sie werden einfach nur zwei Kinder mehr durchzufüttern haben, weil Sie ja zu allem Überfluss immer gleich zwei auf einmal machen!«
    Wut blitzte in Monsieur Baoulés Augen auf. Man hatte ihm alles genommen, seinen Bruder, seine Vergangenheit, sein Land. Nicht aber seinen Stolz. Seine Frau begann zu lachen, als hätte Nathalie gerade einen guten Witz gemacht.
    »Ist nicht meine Schuld«, sagte sie. »Ich mag meine Kinder so seh’, dass ich imme’ gleich eine Kopie mache!«
    Tatsächlich aber hatten die Baoulés zunächst geglaubt, wenn sie ein Kind in Frankreich bekämen, würden sie zu Eltern eines französischen Kindes und könnten nicht mehr ausgewiesen werden.
    »Seit 1993 bestimmt das Pasqua-Gesetz, dass in Frankreich geborene Kinder ausländischer Eltern die französische Staatsangehörigkeit beantragen müssen, wenn sie zwischen dreizehn und achtzehn Jahre alt sind«, rief Nathalie und klopfte dazu rhythmisch mit ihrem Kuli auf den Holztisch. »Eden ist keine Französin.«
    Die verwitwete Madame Baoulé sprang mit einem Satz auf und nahm ihre Tochter in die Arme, als sei sie durch die Erklärung direkt von der Ausweisung bedroht. Sofort schlug das Baby seine großen Augen auf und starrte, noch halb schlafend, vor sich hin, was seine Ähnlichkeit mit einer dicken Puppe noch verstärkte. Nathalie stand ebenfalls auf und warf einen Umschlag auf den Tisch.
    »Das hier ist vom Verein.«
    Dreihundert Euro. Lächerlich, aber lebenswichtig. Die junge Frau griff nach ihrem Motorradhelm.
    »Und passen Sie mit den Nachbarn auf! Nicht, dass die Kinder die Alten hier nerven. Man bekommt schnell eine anonyme Anzeige. Und die Rentner brauchen ja Beschäftigung. Na dann, bye!«
    Sie war die Großzügigkeit selbst, aber so grob, dass niemand sie mögen konnte. Sie schwang sich auf ihr Motorrad und ließ ratlose Erwachsene zurück. Als sie in der Innenstadt ankam, verwandelte sie sich von einer Menschenrechtsaktivistin in eine Anti-Werbe-Aktivistin. An einer Bushaltestelle verkündete eine junge Frau in kurzem Nachthemd:
Verführung ist nur ein Spiel.
Das war zuviel für Nathalie, die der Frau
Schlampe
zwischen die Augen schrieb.
     
    Währenddessen waren die kleinen Baoulés wieder in den Wartesaal hinuntergegangen. In diesem Raum schliefen die Eltern, dort bereiteten die Mamas auch die Mahlzeiten zu, wuschen die Wäsche und passten dabei auf Baby Eden auf. Dank eines kommunistischen Gewerkschafters, der beim Elektrizitätswerk arbeitete und den Anschluss wieder in Betrieb gesetzt hatte, gab es seit vierzehn Tagen Strom. Wasser gingen sie in Kanistern an einem Hydranten fünfhundert Meter entfernt holen. Das Leben spielte sich ein.
    Monsieur Baoulé hatte mehrere kleine Jobs gefunden, Maler-, Garten-, Hausmeisterarbeiten. Damit er sich abends zwischen zwei Jobs ein bisschen ausruhen konnte, schickte seine Frau die Kinder vor die Tür und gab ihnen ihr Abendessen: zwei Töpfe mit sehr weich gekochtem Reis, ein bisschen Fleisch oder Fisch und der unvermeidlichen Chilisauce. Clotilde kümmerte sich um die Verteilung. Wenn es regnete, aßen sie unter dem Bahnhofsvordach, bei gutem Wetter setzten sie sich auf die Schienen. Sie redeten von der Schule, die Großen brachten die anderen zum Lachen, indem sie Omchen nachmachten: »Kleiner Schingel« oder Monsieur Montoriol: »Monsieur Felix, glauben Sie, ich hätte Sie nicht gesehen?«, Toussaint und Démor brachten die anderen zum Träumen, indem sie von Cécile erzählten. Leon war in sie verliebt, und alle zogen ihn damit auf. Er war empört: »Na und? Ich heirate sie und werde Franzose!«
    Er hasste die Elfenbeinküste. Nicht aber Alphonse. Alphonse erinnerte sich an die schönen Tage. Die Kleinen baten ihn: »Alphonse, erzählst du uns, wie wir reich waren?«
     
    An diesem Abend fror Alphonse, und er hüpfte von einer Schwelle zur nächsten und entfernte sich ein wenig. Er mochte die Großfamilie, er

Weitere Kostenlose Bücher