Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
Vom Netzwerk:
mochte es auch, allein zu sein. Nicht ganz allein. Hyacinthe war an seiner Seite. Hyacinthe, der gestorben war. Alphonse betrachtete die verrosteten Gleise, die an manchen Stellen schon von Pflanzen überwuchert waren, und begann zu träumen, die nächste Station würde Bouaké heißen.
    »
Bakans
[1] ! Alphonse! Clotilde!«
    Die Mütter riefen zum abendlichen Waschen. Es wurde rasch erledigt, mit einer Kanne, einem Bottich, kaltem Wasser und einem Handtuch für drei. Währenddessen plätscherte Baby Eden im lauwarmen Wasser seiner Wanne, so hübsch, so pummelig und insgeheim der Liebling der anderen, weil es hellere Haut als seine Schwestern und sein Bruder hatte. Leon drückte sich einen Moment um seine Mutter herum. Er hätte gern nach ein bisschen vom Grießbrei des Babys gefragt, wenn er nicht Angst gehabt hätte, dass Alphonse ihn hörte.
    Dann war es Zeit, ins Bett zu gehen. Im ersten Stock hatten früher wohl der Bahnhofsvorsteher und seine Familie gewohnt. Es gab drei Schlafzimmer, in denen man nachts nicht mehr laufen konnte, weil der Boden voller Matratzen und Decken war. In einem der Zimmer drängten sich Démor, Leon, Felix und Alphonse zusammen. Von dort gingen alle hinterlistigen Streiche aus. Übrigens waren sie die Einzigen, die über ein wertvolles Gut verfügten: eine Taschenlampe.
    »Gehen wir heute Abend?«, fragte Felix, der im Dunkeln lag.
    »Es ist kalt«, sagte eine Stimme.
    »Wer friert?«, fragte Alphonse.
    Keine Antwort. Wir Neger frieren nicht.
    »Du bist klein, Démor«, sagte der Älteste. »Es ist besser, du schläfst.«
    »Wenn ich nicht mitkomme, geschieht euch ein Unglück.«
    Fête des Morts nutzte den Aberglauben der anderen Baoulés aus. Er hatte sie davon überzeugt, dass er unter besonderem Schutz stand, weil er an Allerseelen geboren war.
    »Er kommt mit«, sagte Leon.
     
    Die vier Jungen kannten einen Weg, das Haus zu verlassen und wieder zurückzukommen, ohne jemanden zu stören – durch den Notausgang. Das war eine Metallleiter neben ihrem Fenster.
    Sobald sie auf den Schienen standen, liefen sie im Dunkeln los und stolperten dabei gelegentlich über ein Hindernis. Wenn Alphonse glaubte, sie seien nicht mehr zu sehen, machte er die Taschenlampe an – zur großen Erleichterung von Leon, denn der Mond beleuchtete manche Baumgruppe auf recht beunruhigende Weise. Die Gleise führten auf eine Brücke, die über einen Nebenarm der Loire ging. Auf Höhe des zweiten Brückenpfeilers hielt Alphonse Felix die Lampe hin: »Du leuchtest mir.«
    Er kletterte über das Geländer und tastete mit der Fußspitze nach der ersten Vertiefung im Stein. Er kannte jeden Halt und war rasch am Fuß der Brücke auf einem schmalen Sandstreifen angelangt.
    »Okay!«, rief er. »Wirf!«
    Felix schleuderte die Lampe über die Brüstung.
    »Du bist doch bescheuert!«, schimpfte Alphonse. »Sie ist ins Wasser gefallen …«
    Zum Glück lag sie direkt am Ufer und es war leicht, sie zurückzuholen. Aber funktionierte sie noch?
    »Okay!«, rief Alphonse erneut.
    Er richtete den Lichtkegel auf das Geländer. Jetzt war Felix dran. Der Junge war nicht so sportlich wie die anderen. Aber er hatte Klettern geübt, vor allem an der Schulmauer, wenn Monsieur Montoriol nicht Aufsicht führte. Mit ein paar Bewegungen war er bei Alphonse.
    »Du bist dran, Leon!«
    Niemand sprach es aus, aber jeder wusste, dass Leon vor Angst halb tot war. Der kleine Junge kletterte mit angehaltenem Atem wie ein Taucher.
    »Jetzt du, Démor!«
    Démor war unerschrocken. Kam das, weil er durch seinen Geburtstag unter besonderem Schutz stand oder aber weil seine Haare Feuer gefangen hatten, als er ein Baby gewesen war, und ihn das auf immer gegen Angst immun gemacht hatte?
     
    Als alle vier wieder vereint waren, entledigten sie sich ihrer Schuhe und stapften über den sehr weichen, bleichen Sand des kleinen Strandes. Aber sie zogen die Schuhe wieder an, um ins Innere der Insel vorzudringen, die Démor die »Insel der Kannibaoulés« getauft hatte. Der Sandweg war manchmal von Brombeerranken oder Kletten überzogen. Die Jungen beklagten sich nicht, da die Pflanzen sie mit einem Beerenfestmahl beschenkten und die Kletten mit Kugeln, um sich stundenlang zu bewerfen.
    Der Pfad verlief manchmal sehr nahe am plätschernden Wasser, nach Leons Geschmack ein bisschen zu nahe. Dann führte er an Schlammlöchern vorbei, in denen die jungen Baoulés in der wärmeren Jahreszeit herumgewatet waren, Staubecken gebaut und Kaulquappen gefangen

Weitere Kostenlose Bücher