Ein Ort wie dieser
so einen Lärm!«
»Nicht, wenn Sie Ihnen Geschichten erzählen.«
»Aber ich erzähle viel zu viel«, klagte Cécile.
Sie zuckte zusammen. Georges hatte ihr gerade die Hand auf die Schulter gelegt.
»Sie sind erschöpft. Sie nehmen nichts mehr wahr. Sie machen Ihre Arbeit sehr gut, Cécile. Ihnen fehlt es ein bisschen an Autorität, aber das wird mit der Zeit kommen. Ich werde die Eltern von Audrey zu mir bitten, und ich garantiere Ihnen, dass das Mädchen zum Logopäden gehen wird. Steven lasse ich eine Untersuchung bei der Schulpsychologin machen. Hier ist nicht der richtige Ort für ihn.«
Cécile schämte sich, dass sie zusammengebrochen war. Sie fühlte sich, als habe sie ihre kleinen Schüler verraten. Es gelang ihr, sich widerwillig ein »Danke« abzuringen.
»Aber keine Ursache«, protestierte Monsieur Montoriol. »Und was dieses verflixte Theaterstück betrifft, da bedaure ich, dass ich Sie dazu genötigt habe.«
Mehrmals dachte Cécile im Lauf des Vormittages an den Satz von Montoriol, der klang wie ein Todesurteil:
Hier ist nicht der richtige Ort für ihn.
Verstohlen musterte sie Steven. War er wirklich anders als die anderen Kinder? Unwillkürlich bemerkte sie die etwas tiefe Stirn, die zu weit auseinanderstehenden Augen. Plötzlich fühlte das Kind sich beobachtet und lächelte sie mit einem Lächeln an, das ihn verwandelte. Seit einiger Zeit zeigte er gelegentlich eine solche Wachheit, er lachte nach einem Witz ein lautes, heiseres Lachen und meldete sich, um sich zu beteiligen. In der Pause war er nicht mehr so viel allein, und er hatte nicht mehr diesen schlimmen Ausschlag um den Mund. Aber zu Céciles großem Kummer schlief er immer noch vor dem Ende der Geschichten ein.
Am frühen Nachmittag kümmerte Cécile sich besonders um ihre kleine Fördergruppe in Rechnen, die aus Steven, Marianne, Robin und Démor bestand.
4 + 2 =
5 + 3 =
2 + 4 =
4 + 4 =
Das waren die Schwierigkeiten des Tages, und Cécile wusste, was kommen würde. Marianne würde auf die Ergebnisse kommen, aber nach einer Viertelstunde. Robin würde 9 anstatt 6 schreiben. Steven würde einen Finger nach dem anderen strecken und dabei halblaut mitzählen. Dann würde er das Ergebnis vergessen, sobald er es hinschreiben wollte, und neu beginnen müssen. Démor … Démor gähnte. Er hatte noch nicht angefangen. Cécile schüttelte ihn.
»Sag mal, machst du dich jetzt mal an die Arbeit? Wann bist du gestern Abend schlafen gegangen? Ich wette, du hast ferngesehen?«
»Das war danz toll!«, antwortete Audrey an seiner Stelle. »Da dab’s die
Insel der Abenteurer.
«
»Tatatam!«, brüllte Baptiste und machte die Titelmelodie der Sendung nach. »Wer bleibt auf der Insel? Wer wird von ihr verjagt?«
»Hast du gesehen, wie sie Spinnen essen mussten?«, fiel Ines ihm ins Wort.
»Igitt«, riefen alle angewidert.
»Wer hat es gesehen?«, fragte Cécile.
Zwei Drittel der Schüler hoben den Arm. Nicht aber Démor. Er war wirklich auf der Insel der Abenteurer gewesen.
»Was hast du denn desehen?«, wollte Audrey wissen, die sich keine andere Art der Abendgestaltung vorstellen konnte.
»Ich habe nichts gesehen. Ich habe keinen Fernseher.«
Die Kinder stießen denselben Schrei aus wie an dem Tag, als er ihnen gesagt hatte, er habe sich verbrannt.
»Auf, alle wieder an die Arbeit!«, schimpfte Cécile.
Marianne glaubte schließlich, vier und zwei machten sechs, Robin dachte sechs und schrieb neun, Steven zählte an seinen Fingern ab, griff nach seinem Stift, hielt inne, als er mit Schreiben beginnen wollte, und sah nach der Antwort in Démors Heft. Cécile spürte, wie der Mut sie verließ. Wozu war sie eigentlich gut?
Am Ende des Schultages hatten sie in der Bibliothek das Theaterstück proben wollen, aber Cécile ließ die Zeit absichtlich verstreichen. Vincent meldete sich: »Kommt Kicko-Kack heute nicht dran?«
Achtzehn Blicke waren auf sie gerichtet.
»Hört mal her, wenn ihr während der Probe nicht brav seid, sage ich euch gleich, dass wir das Stück absagen.«
»Was heißt ›absagen‹?«, fragte Steven verschreckt.
»Wir spielen es nicht, ganz einfach.«
Die Drohung zeigte die ersten zehn Minuten lang Wirkung. Dann begann Baptiste wieder mit seinen Pipi- und Kacka-Witzen. Tom kniff die Mädchen, Lisa und Claire spielten »René, der war ein wilder Krieger, der machte tausend Feinde nieder«, und Omchen verteilte hinterhältig Ohrfeigen.
»Mir reicht’s!«, rief Cécile.
Alle
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