Ein Ort wie dieser
hatten. Unter einer Silberweide hatten sie aus ineinander verflochtenen Zweigen, Farnwedeln und Lattenkisten, die sie in einem Lagerhaus neben den Schienen gefunden hatten, ihre Hütte errichtet. Sie träumten davon, sich ein Boot zu bauen und auf Entdeckungsfahrt zu den benachbarten Sandbänken zu gehen. Einstweilen trugen sie ihre Schätze in die Hütte, wo sie sich ein Versteck angelegt hatten. Dort wurden in der Pause gewonnene Murmeln aufbewahrt, ein von Nathalie geklautes Feuerzeug, ein Messer und ein Glas, die sie in der Kantine eingesteckt hatten, riesige Schrauben und Eisenplatten, die sie neben den Gleisen gefunden hatten, ein mit einem Totenkopf geschmücktes Marmeladenglas, in dem sie die giftigen Beeren des bittersüßen Nachtschattens aufbewahrten, dann alle möglichen Keramikscherben, die sicherlich von den Galliern stammten, und Feuersteine, die zwangsläufig prähistorisch waren.
Nachdem die Jungen überprüft hatten, dass der Schatz nicht geplündert worden war, beschlossen sie, ein Feuer am Strand zu machen. Zu diesem Zweck bewahrten sie Reste von Lattenkisten auf, Reisig und Treibholz. Es war in letzter Zeit trocken gewesen, und das Feuer ging schnell an. Alphonse, der die Zähne zusammenbiss, damit sie nicht klapperten, hielt die Hände vors Feuer. Dann steckte er sie in seine Taschen.
»Heh, Leon! Tataaa!«
Er schwenkte zwei Stücke Brot. Der kleine Junge lachte. Der Hunger ließ seine Augen aufleuchten wie die eines Wolfs.
»He, Leon!«
Jetzt war es Felix, der zwei Äpfel aus seinen Taschen zauberte. Wo hatte er sie her? Ein Geheimnis … Die Jungen setzten sich im Kreis und rösteten erst mal das Brot.
»Und Démor, hast du nicht noch so eine Geschichte von deinem Hasen?«, bemerkte Alphonse in etwas verächtlichem Ton.
In Wirklichkeit schwärmte er für die Abenteuer dieses Hasen, der hässlich und unerzogen war, aber am Ende immer gewann. Wenn die Lehrerin von Kicko-Kack erzählte, hörte Démor so aufmerksam zu, dass er die Geschichten fast wörtlich nacherzählen und dabei alle Figuren spielen konnte. Das geröstete Brot und die Äpfel verschwanden, während Démor erzählte. Dann erstickten sie das Feuer mit Sand und gingen über die Brücke zurück. Die vier Kinder waren völlig durchgefroren. Leon spürte, wie sein Magen sich wand und weiter nach Nahrung verlangte, Démor taumelte vor Müdigkeit.
»Das war schön«, sagte Alphonse, der trotz der Decke noch in seinem Bett schlotterte.
Bald angeln wir mal, schwor sich Felix.
Er wusste nicht, dass die Loire in ein paar Tagen, spätestens ein paar Wochen mit ihrem Hochwasser jede Spur der Insel auslöschen und den Schatz der Kannibaoulés verschlingen würde.
Wenn sich das Glück zeigt, muss man es packen.
Kapitel 10 Das von der Rue Jean-Jaurès über die Rue de la Solidarité zur Rue Paul-Bert führt
Nathalie kam miserabel gelaunt nach Hause. Den Models an den Bushaltestellen Bärte anzumalen, hatte ihr keine Erleichterung gebracht. Seit einiger Zeit ging es mit keinem einzigen Asylantrag voran, und die einzige freundliche Verbindung, die der Verein zur Präfektur hatte, eine ältere Dame, war auf eigenartige Weise verschwunden. Jetzt saßen da nur noch Dumpfbacken.
Als Nathalie in der Rue Jean-Jaurès 20 angekommen war, lief sie mit großen und lauten Schritten die Treppe hinauf. Eine kleine Frau, die gerade die Mülltonne runtertrug, musste ihr ausweichen und sich an die Wand drücken.
»Ganz recht«, schimpfte sie. »Schubsen Sie mich doch auch noch.«
Nathalie drehte sich um und warf ihr einen wütenden Blick zu. Sie mochte keine Menschen. Sie mochte nur die Menschlichkeit. Im sechsten Stock trat sie unvermittelt ein und stieß auf den splitterfasernackten Eloi.
»Schon wieder!«, sagte sie genervt.
»Wenn du klopfen würdest, bevor du reinkommst, hätte ich Zeit, mich anzuziehen«, antwortete der Junge etwas geziert und zog einen alten roten Bademantel über.
»An Türen klopfen bedeutet, Privateigentum anzuerkennen.«
»Na, dann schenke ich meinen Hintern eben der Allgemeinheit«, erwiderte Eloi.
Seine Mitbewohnerin zuckte mit den Schultern. Humor gehörte nicht zu ihrer Aktivistinnenausrüstung.
Seit sechs Monaten wohnten Eloi und Nathalie zusammen, um die Kosten zu teilen. Jeder von ihnen hatte ein Zimmer, aber das von Eloi war ein Durchgangszimmer. Außerdem teilten sie sich – zum größten Unglück des Jungen – Küche und Bad. Nathalie wusch nie ab und ließ das Waschbecken verdrecken. Eloi, der so
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