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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
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erstarrten.
    »Genug jetzt«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme.
    Sie sank in sich zusammen.
    »Abssagen wir?«, fragte Louis.
    »Niemand kennt seinen Text!«, jammerte Cécile. »Und außerdem hört ihr einander nicht zu …«
    »Also ich weiß meinen Text«, murmelte Démor.
    Er machte sich mit der Hand ein Hasenohr und bewegte es, wozu er den kleinen Refrain sang, den Cécile für ihn komponiert hatte:
    »Ich hab nur ein Ohr und hab keinen Bart
    In meiner Familie, da ist’s für mich hart
    Mit meinem Ausseh’n, da stimmt etwas nicht
    Ich hab das hässlichste Hasengesicht.«
    Es war traurig und komisch zugleich. Denn er war wirklich hässlich und sang mit großer Überzeugung. Cécile überkam ein großes Schaudern. Was würden die Eltern davon halten? Eltern aus der Innenstadt!
    »Er spielt Titto-Tatt so toll!«, rief Audrey begeistert.
    »Abssagen wir nisst?«, flehte Louis.
    Cécile drückte ihn ans Herz.
    »Nein«, murmelte sie.
     
    Aber sie hatte es noch lange nicht geschafft. Als die Schule aus war, kam vor dem Tor eine sehr große, knochige Dame auf sie zu und stellte sich vor: »Ich bin Madame Marchon, die Mama von Jean-René. Gibt es eine Möglichkeit, Ihnen kurz etwas zu sagen?«
    »Natürlich.«
    »Waren Sie es, die Jean-René dieses Buch geliehen haben, das heißt … ähem …
Jeder macht sein … Kacka?
«
    »Jeder macht sein Häufchen«
, verbesserte Cécile, die sich der Gefahr nicht bewusst war.
    »Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass derlei Lektüre zu Hause nicht unseren Gewohnheiten entspricht. Ich bin … ähem … Lehrerin für Literatur und Philosophie am Benjamin-Franklin-Gymnasium.«
    Cécile spürte, wie ihr erst glühend heiß, dann eiskalt wurde. Sie war unfähig zu reagieren.
    »Zwei meiner Kinder hatten Madame Maillard als Grundschullehrerin, und ich konnte nur froh darüber sein. Sie war traditionell, und ich weiß, dass viele das belächeln. Aber ich, ich verstehe Ihre sicherlich ›moderne‹ Methode des Lesenlernens nicht. Warum hat Jean-René kein Lehrbuch? Warum hat er keine Hausaufgaben?«
    Cécile rang die Hände. Stumm blickte sie in die Ferne. Madame Marchon, die eine lebhafte Erwiderung erwartet hatte, war verdutzt. Und Cécile ging davon, ohne ein einziges Wort zu ihrer Verteidigung gesagt zu haben. Sie ging so schnell sie konnte, ohne zu rennen, ging bei sich zu Hause die Treppe hinauf, öffnete leise die Tür, um ihre Mutter nicht zu alarmieren, und warf sich schluchzend auf ihr Bett. Den Kopf ins Kissen gedrückt, tastete sie nach einem alten Teddy, der seit der dritten Klasse bei ihr schlief. Sie drückte ihn vor den Mund, um den Schrei zu unterdrücken, der in ihr aufstieg. Papa! Papa!

Kapitel 11 In dem Heiratspläne geschmiedet werden
    »Es ist eine Schande! Am Ende werfe ich die noch aus meiner Klasse!«
    Chantal Pommier, die theatralische Auftritte liebte, hatte gerade die Tür zum Lehrerzimmer aufgerissen. Cécile und Melanie sahen sie an und warteten auf weitere Informationen.
    »Die kleine Boualé, die ich in meiner Klasse habe …«
    »Welche?«, fragte Melanie.
    Chantal hielt in ihrem Schwung inne und bewegte ihre Armreife: »Ich weiß es nicht mehr. Nicht die Zwillinge, die andere …«
    »Also Donatienne«, präzisierte Melanie.
    »Ganz genau. Seit zwei Tagen hält sie sich mit Leidensmiene die Wange. Schließlich reicht es mir, und ich frage sie, was sie hat. ›Ich hab Zahnweh.‹ Ich schimpfe ein bisschen mit ihr, sage ihr, das soll sie ihren Eltern sagen, anstatt so ein Gesicht zu machen. Am Ende lasse ich sie den Mund aufmachen.«
    Cécile öffnete verdutzt den eigenen. Glücklich, eine neue Zuhörerin gefunden zu haben, fügte Chantal hinzu: »Ich wollte sehen, ob sie nicht einen Abszess hat. So etwas kann sehr gefährlich sein. Mein Mann ist Arzt, und er hat manchmal Fälle gesehen, die … Ja, das mag überraschen, dass mein Mann Arzt ist.«
    Cécile hatte keinerlei Überraschung gezeigt, aber Melanie, die wusste, was folgen würde, da sie es schon zehn Mal hatte über sich ergehen lassen, floh zu ihrem Wasserkocher. Chantal wirbelte ein paar Mal mit ihren Armreifen: »Ich bin oft gefragt worden, warum ich Grundschullehrerin bin, wo mein Mann, Doktor Pommier, doch ein gutes Auskommen hat. Ein sehr gutes sogar.«
    Sie schien den dicksten ihrer Armreifen zu untersuchen.
    »Aber was soll das? Ich hätte mich nie damit zufrieden gegeben,
nur
die Frau von Doktor Pommier zu sein. Übrigens habe ich eine Leidenschaft für meinen Beruf.

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