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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
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eine ausgezeichnete Vorrede für das erste Lied:
    »Amadou hat jetzt bekommen
    einen Ranzen braun und schwarz
    Djié djié Aminata-é Djié djié Kun-Kurué
    Zum Radieren einen Gummi,
    blau und rosa, wunderschön
    der erinnert so an früher,
    an Tage, die er gern geseh’n«
    Je länger er sang, desto stärker spürte Alphonse, wie ihm das Herz überging.
    »In Abidjan herrscht nicht mehr Frühling
    Amadou ist gerad’ erst zehn
    Mit dem Gummi rennt er hin,
    will versuchen, will es seh’n,
    ob es möglich zu radieren,
    was der Krieg an Not gebracht …«
    Alphonse würde den Frühling in Bouaké nicht wiedersehen. Hier aber würde er, wie er spürte, ein neues Leben beginnen. Er hatte eine Stütze gefunden, und er ließ seinen Lehrer nicht aus dem Blick.
    »Mit seinem Stift und auf Papier
    zeichnet er die Schule neu,
    alle Kinder kriegen Stühle
    kriegen Bänke, eine Tafel
    Einen Ranzen gibt’s für jeden
    und das Leben fängt neu an.«
    Etwas übertrug sich von der Bühne auf den Zuschauerraum, eine Ergriffenheit, die aus den Herzen der Kinder kam, und Madame Pons rief sogar: »Bravo!«
    Monsieur de Saint-André warf ihr einen Blick zu, als hätte er es mit einer Verrückten zu tun, und rutschte ein bisschen mit dem Stuhl zur Seite, sicher aus Sorge vor Ansteckung. Dann begannen die höheren Klassen ihre staatsbürgerlichen Lieder zu singen, bis das letzte dran war:
    »Viel zu viele Kinder leiden noch viel Not
    Haben eine Kindheit ohne Spiel’ und Brot
    Sag, wie könnt ich sie befreien
    Ihnen nehmen ihre Schmerzen?
    Einfach ist der Weg: Folg nur deinem Herzen!«
    »Ich frage mich, wo der gute Direktor sich mit rührseligen Liedern versorgt«, kommentierte Monsieur de Saint-André ironisch. »Man müsste dafür sorgen, dass die Quelle versiegt.«
    Als alles zu Ende war, erhob sich Madame Pons abrupt und versetzte dem Schienbein ihres Nachbarn – ganz ungeschickt – einen heftigen Tritt. Überrascht stieß er einen schmerzerfüllten Schrei aus.
    »Oh, wirklich, das tut mir aber leid«, bemerkte Madame Pons kokett, deren Augen spöttisch funkelten.
    Denn die Mama von Louis, die war nisst immer nur liebensswürdig.
     
    Nachdem Monsieur de Saint-André sich das Bein gerieben hatte, sah er sich suchend nach seiner Frau um, die verschwunden war. Madame de Saint-André hatte gerade die Lehrerin von Eglantine in der Küche ausfindig gemacht.
    »Mademoiselle Barrois, glaube ich?«
    Cécile wurde verlegen, als sie die Augen von Eloi sah. Aber seine Mutter hatte eine andere Art des Blicks, so, als sei die Person, die sie sehen wollte, nicht da.
    »Ich hatte noch nicht die Gelegenheit, Ihnen für den Geburtstag von Eglantine zu danken. Das war sehr nett von Ihnen, ihn mit der Klasse zu feiern. Sie erzählt mir jetzt noch davon.«
    »Ach ja? Ich … ja«, stammelte Cécile.
    Madame de Saint-André lächelte liebenswürdig, dann schien ihr entfernter Blick auf einen bestimmten Punkt hinzustreben.
    »Läuft alles gut mit Eglantine?«
    »Sehr gut. Sie kann schon lesen …«
    »Natürlich, aber ich sprach nicht von den schulischen Leistungen. Hat sie Freundinnen gewonnen?«
    »Ja, und sogar …«
    Cécile hätte beinahe von ihrem Verliebten gesprochen, hielt sich aber zurück.
    »… sogar mehrere Freundinnen …«
    »Wirkt sie ausgeglichen auf sie?«, fragte Madame de Saint-André merkwürdigerweise nach. »Oh, entschuldigen Sie mich, ich sehe, dass mein Mann mich sucht …«
    Ein unvermitteltes Lächeln, ein Blick, der sich löst.
    »Auf Wiedersehen und noch mal Danke.«
    Sie entfernte sich lebhaft und flink wie ein Vogel. Sie hatte etwas von Eloi, aber sie war traurig, unendlich traurig.
     
    »Entschuldigen Sie«, sagte eine Stimme.
    In einem Traum verfangen, hörte Cécile nichts.
    »Entschuldigen Sie«, wiederholte die Stimme. »Sind Sie Mademoiselle Barrois?«
    Es war wieder eine Frau, und Cécile fragte mechanisch: »Sie sind die Mama von …?«
    »Momentan noch von niemandem!«
    Sie lachte über den Irrtum.
    »Ich bin die Psychologin von Steven. Steven Mussidan. Ich wollte Sie unbedingt sehen und Ihnen sagen, wie sehr ich bewundere, was Sie geleistet haben.«
    »Wie bitte?«
    Cécile hatte große Augen gemacht und war sich sicher, dass da eine Verwechslung vorlag. Die Frau fing erneut an zu lachen.
    »Er hat so große Fortschritte gemacht! Sie haben bestimmt gemerkt, wie sehr sich seine Zeichnungen verändert haben?«
    »Ja«, räumte Cécile ein. »Er verwendet jetzt Farben.«
    »Aber was er jetzt zeichnet,

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