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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
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hat nicht mehr das Geringste mit diesen tiefschwarzen Kaulquappen zu tun, die er früher gemalt hat! Man sieht die Sonne, seine Figuren lächeln. Er erzählt mir dazu: ›Sie gehen in die Schule‹. Und dann wollte ich noch wissen: Wo kann man die Geschichten von Kicko-Kack Hase finden? Meine Buchhändlerin konnte mir keine Auskunft geben.«
    Jetzt musste Cécile lachen. Dann errötete sie, und es war ihr unangenehm, als sie gestand: »Also … die denke ich mir aus.«
    Die Augen der Therapeutin begannen zu leuchten: »Das dachte ich mir! Steven identifiziert sich vollständig mit diesem kleinen behinderten Hasen. Er spielt selbst den Hasen.«
    Cécile stiegen Tränen in die Augen, aber der Satz hallte noch immer in ihrem Kopf wieder:
Hier ist nicht der richtige Ort für ihn.
Sie hatte Mühe, zuzugeben, dass sie für Stevens Fortschritte verantwortlich war.
    »Dabei hat er Mühe, zwei Silben aneinanderzufügen«, sagte sie.
    »Er hat einen so weiten Weg. Er braucht Zeit.«
    Cécile nickte. Eine letzte Sache machte ihr Sorgen.
    »Er schläft immer vor dem Ende der Geschichten ein.«
    Die Therapeutin lächelte entzückt.
    »Sie machen ihm ein fabelhaftes Geschenk. Sie ermöglichen es ihm, beim Klang einer Stimme, die etwas erzählt, einzuschlafen. Seine Mama hat ihm dieses Geschenk nie gemacht.«
    Cécile blieb einen Augenblick unfähig, irgendetwas zu sagen, und unterdrückte, so gut sie konnte, ihre Tränen. Dann sagte sie leise: »Damit machen
Sie
mir ein fabelhaftes Geschenk.«

Kapitel 15 In dem Leon die Initiative ergreift
    »Verdammt, der Schatz!«, rief Démor.
    Es war der 24 . Dezember, und die Baoulé-Kinder nutzten den sonnigen Tag. Alphonse, Felix, Leon und Démor waren schon lange nicht mehr zur Kannibaoulé-Insel gekommen. Mit grauem Wasser voller Strudel wälzte die Loire sich unter der Brücke hindurch. Die Insel war verschwunden.
    »So ist das Leben«, sagte Leon, der ein Spezialist in dieser Sache war.
    Ans Geländer gelehnt, übten sie sich im Weitspucken.
    »Ferien sind gut«, sagte Tiburce, und es klang wenig überzeugt.
    Im besetzten Bahnhof war es eiskalt, das Essen war immer dasselbe. Monsieur Baoulé war erschöpft, die Mütter ständig angespannt.
    Die Baoulé-Kinder vermissten die Schule.
    »Sicher, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt?«, fragte Démor leise.
     
    An diesem Abend kam Monsieur Baoulé mit einem Gast von der Arbeit zurück, einem Alten aus Burkina Faso, der bekannt dafür war, viel zu wissen. Monsieur Baoulé warf einen Blick auf die Töpfe, um sicherzugehen, dass es nicht an Essen fehlte. Genau wie Leon brauchte er immer viel zu essen. Ein ganzes Huhn zum Abendessen war nichts, was ihn erschreckte. Seine Frau sah ihn fragend an und wartete darauf, dass er den Gast vorstellte.
    »Das ist der alte Moussa«, sagte Monsieur Baoulé nur. »Er kommt zum Essen.«
    Moussa war ein magerer kleiner Mann, der aber eine unglaubliche Menge verdrücken konnte. Jedes Mal, wenn Madame Baoulé sich ihm zuwandte und die Kelle im Topf anhob, machte er eine unmissverständliche Kopfbewegung. Er ließ sich sechs Mal ohne Pause nachgeben. Die kleinen Baoulés, die sich ins erste Stockwerk geflüchtet hatten, kamen auf Zehenspitzen die Treppe herunter, um das Phänomen zu beobachten. Leon war erbost. Er hatte sich nicht satt essen können.
    »Moussa hat etwas zu sagen«, erklärte Monsieur Baoulé schließlich.
    Sicherlich, aber zunächst wünschte er zu rauchen. So wurden die wenigen Zigaretten von Monsieur Baoulé geopfert. Die Frauen wuschen ab, wechselten dem Baby die Windeln und brachten dann die Kinder zu Bett. Das Waschen war auf den nächsten Tag verschoben.
    »Mimami, ich hab Hunger«, flüsterte Leon seiner Mutter ins Ohr.
    Er fing sich eine Ohrfeige ein, die ihn an Omchen an ihren schlechten Tagen erinnerte, und schwor sich wütend, den Grieß des Babys zu klauen.
    Unten im Wartesaal war der alte Moussa gerade mit Verdauen beschäftigt.
    »Nun?«, fragte ihn Monsieur Baoulé ermunternd.
    Der kleine Mann bedeutete ihm mit einer Handbewegung, dass man ihn nicht hetzen dürfe. Aber da es nichts mehr zu essen, nichts mehr zu rauchen gab, säuberte er sich die Zähne und entschloss sich dann zu reden.
    »Hast du gehö’t von de’ F’au, die aus dem Fenste’ gesp’unge ist? E’ste Stock und wa’ Glück, ist nu’ gelähmt.«
    Er wiederholte das Wort mit Nachdruck: »Gelähmt in Bein und kann nicht meh’ lauf’.«
    Monsieur Baoulé hatte von dem Fall erfahren: »Es war eine Frau aus

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