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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
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der Elfenbeinküste. In Montargis.«
    »Ja, Monta’gis«, stimmte der kleine Mann zu. »Die F’au hat absichtlich gemacht. Absicht hat sie aus dem Fenste’ gestü’zt. Wegen Papie’e.«
    Er nickte und blickte abwechselnd zu Monsieur Baoulé, dessen Frau und dessen Schwägerin.
    »Wenn du K’ankheit bist oder bist Unfall, in K’ankenhaus di’ geben Papie’e. Das ist wegen Humanitä’.«
    Er wiederholte langsam: »Hu-ma-ni-tä’. Die F’au jetzt hat Papie’e. Ist in Beine gelähmt, aber hat Papie’ fü’ sie, für Kinde’.«
    Er nickte noch einmal, und seine Lippen artikulierten stumm: »Humanitä’.« Wer mit allen Mitteln versuchte, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, kannte das. Jemand, der einen Unfall hatte oder schwer erkrankte, hatte gute Chancen, eine Aufenthaltsgenehmigung »aus humanitären Gründen« zu erhalten. Den Gerüchten nach war das bei der jungen Ivorerin der Fall gewesen. Sie hatte eine Aufenthaltsgenehmigung für sich und ihre Kinder erhalten. Aber sie würde ihr restliches Leben im Rollstuhl verbringen.
    Ein Schauder durchfuhr die verwitwete Madame Baoulé. Dieser kleine Moussa war der leibhaftige Tod, derlei Dinge witterte sie. Da zog Monsieur Baoulé einen Brief hervor, der am Vortag bei den Guérauds angekommen war. Das französische Ehepaar hatte die verwitwete Madame Baoulé bei ihrer Ankunft in Frankreich aufgenommen und bekam weiterhin ihre Post.
    »Das ist vom Flüchtlingsamt«, sagte Monsieur Baoulé.
    Ein Brief vom Amt für Flüchtlinge und Staatenlose, der Brief, auf den sie seit zwei Jahren warteten! Leons Mama spürte eine Messerklinge an ihrem Hals, so wie in jener Nacht in Bouaké. Sie las:
Madame, zu unserem Bedauern müssen wir Sie darüber informieren, dass Ihrem Antrag angesichts der Nichterfüllung der von der Genfer Flüchtlingskonvention geforderten Kriterien …
    Es war eine Ablehnung. Madame Baoulé, deren Mann ermordet worden war, deren Baby in Frankreich geboren war, deren Kinder auf die Louis-Guilloux-Schule gingen, der verwitweten Madame Baoulé wurde das Asylrecht verwehrt, und sie musste in ihr Heimatland zurückkehren – mit Clotilde, Donatienne und dem kleinen Leon, der in einer Nacht der Aufstandes mit ansehen musste, wie seinem Vater die Kehle aufgeschlitzt wurde. Die Unglückliche warf einen panischen Blick zu ihrem Schwager.
    »Die Kinder«, murmelte sie. »Rette die Kinder!«
    Monsieur Baoulé musste ihr begreiflich machen, dass er niemanden würde retten können. Sein Asylantrag würde ebenfalls abgelehnt werden. Gerade war alles gekippt. Bislang waren sie geduldet. Ab sofort waren sie illegal.
    »Humanitä’«, sagte der alte Moussa, als er ging.
    Sobald Monsieur Baoulé mit den beiden Frauen allein war, überkam alle eine Art Wahn. Als erstes schlug er vor, sich vor ein Auto zu werfen.
    »Chétché, chétché«, rief seine Schwägerin erschreckt.
    Nein, nein, der Mann musste Geld verdienen. Also bot Madame Baoulé sich ihrerseits an.
    »Chétché«, entgegnete Leons Mutter. »Du musst deine Babys machen.«
    Sie dagegen war Witwe, sie würde kein Kind mehr bekommen. Und diese weinerliche Frau, die sich so häufig auf andere verließ, erklärte, es sei ihre Aufgabe, sich zu opfern. Plötzlich wachte Eden in der Ecke des Raumes auf, als ob sie verstanden hätte, was sich da zusammenbraute, und begann hinter dem als Raumteiler aufgehängten Laken zu weinen. Die verwitwete Madame Baoulé lief zu ihr und kam, sie in den Armen wiegend, zurück: »Bébé ô bébé, nouan zoe khoh, bébé ô bébé, nouan zoe gbiyako …«
    Sie ahnte nicht, dass Leon, der gekommen war, um seiner kleinen Schwester den Grieß zu stehlen, das gesamte Gespräch mit angehört hatte.
     
    Als Leon wieder im Bett lag und das Herz im Hals schlagen spürte, versuchte er zu verstehen, was da gesprochen worden war. Er hatte begriffen, dass die Aufenthaltsgenehmigung, auf die seine Mama schon so lange wartete, ihr verweigert worden war. Würden sie nach Bouaké zurückkehren müssen? Leon hatte sich die Decke über den Kopf gezogen und riss entsetzt die Augen auf. Aber nein, es gab eine andere Lösung, und er hörte Moussa, wie er »Humanitä’« sagte. Dieser böse kleine Mann jagte Leon Entsetzen ein. Wegen ihm wollten sein Onkel, seine Tante und seine Mama sich aus dem Fenster stürzen oder vor die Räder eines Autos werfen, er wusste es nicht mehr genau. Aber was dann, was würde aus ihnen, den Kindern? Nach und nach beruhigte er sich wieder. Nein, Onkel Baoulé

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