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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
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würde sich nicht umbringen. Das hatte er gesagt. Er musste Geld für die Kinder verdienen. Tante Baoulé würde sich nicht umbringen. Sie musste ihre Babys machen. Also war es …
    »Mimami«, schluchzte Leon leise.
    Erneut konzentrierte er sich, um nachzudenken. Wenn Mama sich aus dem Fenster im ersten Stock stürzen würde, so würde sie sich nicht umbringen, sondern wäre gelähmt im Bein, wie Moussa gesagt hatte. Leon würde sie in ihrem Rollstuhl schieben und ihr das Baby bringen, damit sie ihm die Windeln wechseln könnte. Aber wenn Leon in der Schule und Tante Baoulé bei ihren Putzjobs wäre, was würde dann aus Mama und Baby Eden? Der kleine Junge weinte nicht mehr, er suchte nach Lösungen. Er kroch wieder zu seinem Kopfkissen hinauf und dachte dabei an einen Hasen, der seinen Bau verlässt.
    »Kicko-Kack«, murmelte er.
    Er war Kicko-Kack Hase und würde sie alle retten. Tastend zog er sich an, während er seine Entschlüsse fasste. Er würde Cécile Bescheid geben. Sie war einverstanden, ihn zu heiraten. Sie würde ihm also helfen, in Frankreich zu bleiben, und sie würde Mama daran hindern, sich aus dem Fenster zu stürzen.
    Leon schob die Hand unter Alphonses Kopfkissen und nahm die Taschenlampe an sich. Einen kurzen Moment hatte er das Bedürfnis, seinen Cousin zu wecken. Aber nein, Kicko-Kack kam allein zurecht. Der kleine Junge öffnete das Fenster einen Spalt, griff nach der Leiter und kletterte auf den Bahnsteig hinunter. Er ging nur ein paar Schritte im Dunkeln, bevor er die Lampe anmachte. Dann lief er weiter, den Blick auf den Lichtkreis vor sich gerichtet. Die Nacht war kalt und sternenübersät, und Leon hatte plötzlich Angst, dem Weihnachtsmann zu begegnen. Zum Glück gab es ihn nicht. Er kletterte über die Böschung. Auf der anderen Seite lag Saint-Jean-de-Cléry mit seinen menschenleeren Straßen, die durch die Lichtgirlanden noch trostloser aussahen.
    Leon wusste, dass er lange laufen musste. Allmählich spürte er die Kälte, die Müdigkeit und den Hunger. Aber am Ende des Weges stand die Louis-Guilloux-Schule und gab es Cécile. Es kam ihm nicht in den Sinn, dass Cécile nicht in der Schule wohnte. Etwas machte ihm Sorge: Wenn er dort ankommen würde, wäre es noch dunkel, und Cécile würde schlafen. Als er gerade vor einem Einfamilienhaus vorbeiging, warf sich plötzlich ein Hund gegen das Gittertor und bellte wütend. Leon ließ seine Lampe fallen und rannte davon. Jaulende Hunde, Schreie, brennende Häuser, auf einmal kam alles wieder hoch. Nein, die Vergangenheit kann nicht einfach so wegradiert werden wie in dem Lied der Viertklässler. Die Vergangenheit kauert im Schatten und, hopps, springt sie dir ins Gesicht.
    »Mibaba!«, rief Leon in der Weihnachtsnacht.
    Die Männer haben Papa zu Boden geworfen. Papa ist voller Blut. Rette dich, Leon! Das hat Papa gesagt, bevor er gestorben ist. Wo ist Mama? Sie schreit: »
Wandi
, Leon,
wandi!
« Renn, Leon, renn! Mama ist im Haus geblieben. Sie hat den Männern alles gegeben, das Geld, den Schmuck. Ihren Körper. Aber das weißt du nicht, Leon. Los, rette dich!
    »Der Baumarkt Bricoman«, sagte er halblaut.
    Bald würde Clotilde das Kantinenbrot aus ihrem Ranzen holen. Leon träumte beim Gehen und vermischte Vergangenheit und Gegenwart.
    »Der Auchan-Supermarkt.«
    Er hielt sich an diesem einzigen Gedanken fest: Du musst dich retten. Das hatte Papa gewollt. Als er unter den Arkaden der Rue Principale ankam, war Leon nicht mehr der kleine Junge aus der zweiten Klasse. Er war vier Jahre alt, und die Männer wollten ihn töten. In der Rue Paul-Bert wurde ihm schwindlig, und er musste sich auf den Bürgersteig setzen, die Stirn an die Knie gedrückt. Ein vorbeikommender Nachtschwärmer entdeckte die seltsame Gestalt. Kein Hund. Kein Mann.
    »Ein Kind.«
    Er näherte sich, kauerte sich hin: »Heho?«
    Leon hob den Kopf: »Nicht umbringen, Monsieur«, sagte er mit Babystimme.
    »Bist du ganz allein? Wo ist dein Papa?«
    »Wa oî. [3] «
    »Ja, wo kommst du denn her, kleiner Mann? Wie heißt du?«
    Da erinnerte sich Leon, dass man seinen Namen nicht sagen durfte. Man konnte sterben, weil man Baoulé hieß.
    »Ich habe keinen Namen.«
    Der junge Mann begriff, dass das Kind vor Angst völlig verstört war. Er richtete sich auf und sah sich um. Die Straße war menschenleer. Was tun? Eine schwierige Entscheidung. Der Nachtschwärmer zog einen Würfel aus seiner Armeehose und rollte ihn über das Pflaster. Eins: Er brachte den Kleinen zur Polizei.

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