Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
Vom Netzwerk:
mit ihm zu verbringen. Gil war sein großer Kumpel. Sie spielten gemeinsam Videospiele. Tränen verschleierten Céciles Blick.
O mein Gott, mach, dass Gil zurückkommt, Gil mit seinen zu großen Füßen, seinen zu langen Beinen, seiner gespielten Gleichgültigkeit, seinem kindlichen Lächeln, bitte bring mir Gil zurück.
Ihr Herz wollte zerspringen. Sie drückte beide Hände darauf, um das Pochen einzudämmen. Wenn Gil in einer Stunde nicht da ist, rufe ich die Polizei an. In zwei Stunden wecke ich Mama.
    Und plötzlich geschah, was sie nicht mehr gehofft hatte. Das leise Klicken an der Eingangstür. Cécile sprang auf.
    »Gil!«
    Er stand in der Diele. Lebend. Sie packte ihn bei den Schultern und hätte ihn fast abgetastet, um sich zu überzeugen, dass er es war. Lebend. Ganz.
    »Ja, ich bin okay«, sagte er nur.
    »Woher kommst du? Was hast du gemacht? Warum …«
    »Moment, ich will mich setzen …«
    Sie gingen in Céciles Zimmer, und Gil ließ sich aufs Bett fallen. Einen Augenblick lang verharrte er so, das Gesicht in die Hände gestützt.
    »Sissi«, sagte er schließlich und zeigte ihr seinen kummervollen Blick.
    »Was ist los? Was hast du getan?«
    »Eloi.«
    Wieder überkam Cécile Angst.
    »Eloi?«
    »Ich weiß nicht, wo er ist. Wir waren zusammen. Aber die Bullen sind gekommen. Eloi hat gesagt, ich soll abhauen.«
    »Aber Gil, was erzählst du da? Was für Bullen?«
    Gil sah seine Schwester verwundert an.
    »Ach so, stimmt ja«, murmelte er. »Du weißt ja nicht …«
    Nein, sie wusste nicht, dass ihr Bruder ab und zu loszog, um Plakate zu beschädigen, und dass er diese Nacht auf Elois Motorrad nach Paris gefahren war. Sie hörte ihm verängstigt zu.
    »Aber warum tust du das?«
    »Das ist … aus Spaß«, stammelte Gil. »Nicht für Eloi. Für ihn ist das sein politisches Gewissen, verstehst du. Weil die Großkonzerne … also, da sind von den 100 größten Wirtschaftsmächten 51  Multis, und 49 sind Staaten. Stell dir mal die krasse Macht vor, die die haben!«
    »Ja, aber Eloi?«, flehte Cécile. »Wo ist der?«
    »Das weiß ich nicht. Das heißt, wir waren in der Metro …«
    »Wer ›wir‹?«
    »Jetzt unterbrich mich doch nicht ständig …«
    Er war durcheinander und schwieg einen Augenblick. Dann fuhr er fort: »Wir waren in der Metro, und ich hatte ’ne coole Idee für die Plakate. Ich hab da
pups, pups
in eine Sprechblase neben die Hintern der Mädels gemalt …«
    Cécile faltete die Hände: »Gil, bitte. Du warst mit Eloi in der Metro, und die Polizei ist gekommen, war es so?«
    »Ja, ich … ja.«
    Er sah ins Leere. Er durchlebte noch einmal die Szene. Er war groggy. Einen Moment lang schien er zu sich zu kommen: »Weil das verboten ist, was wir tun. Wir können ins Gefängnis kommen und so.«
    Er begriff.
    »Wir sind in eine Falle geraten. Die Bullen wussten, dass wir kommen würden, die haben auf uns gewartet. Wer hat die informiert?«
    »Der polizeiliche Überwachungsdienst«, murmelte Cécile.
    Seit mehreren Wochen wurden die AWG und der Verein
Asyl – Solidarität und Hilfe
überwacht. Gil nickte schweigend. Für ihn waren Elois Aktivitäten bis zu dieser Nacht ein super Abenteuerspielplatz gewesen. Und Eloi war das Vorbild, der ältere Bruder, den er – das große, zu schnell gewachsene Kind – als Stütze brauchte.
    »Ich dachte doch nicht, ich dachte doch nicht …«, brachte er hervor, und Tränen liefen ihm die Wangen hinunter. »Eloi hat mir gesagt, ich soll abhauen. Ich wollte bei ihnen bleiben.«
    Er schniefte.
    »Ich bin kein Feigling, Sissi, ich wollte sie nicht allein lassen. Die Bullen waren kurz davor, sie mitzunehmen. Ich wollte mit ihnen gehen. Aber Eloi hat mir gesagt, du machst dir Sorgen, er hat mir gesagt, ich soll abhauen.«
    Ein Schluchzen durchfuhr ihn.
    »Da war ein Bulle, der wollte mich festnehmen, und Eloi hat sich auf ihn gestürzt. Er hat sich geprügelt … also, ich glaub … ich bin mir nicht sicher …«
    Er verbarg das Gesicht in den Händen, und Cécile hörte das erstickte Geständnis: »Weil ich abgehauen bin.«
    Er war mit einem Nachtzug zurückgefahren, zitternd vor Angst, einem Kontrolleur zu begegnen. Cécile legte ihrem Bruder die Hand auf die Schulter.
    »Du bist da, das ist das Wichtigste für mich.«
    Aber ihr ganzer Körper schrie:
Und Eloi?

Kapitel 21 In dem viel telefoniert wird
    Monsieur Montoriol frühstückte – schwarzen Kaffee und zwei Butterbrote – immer erst geduscht und rasiert und mit gebundener Krawatte.

Weitere Kostenlose Bücher