Ein Ort wie dieser
war vor fünf Jahren …«
Seit fünf Jahren wartete sie, und ihr in die Ferne gerichteter Blick suchte jemanden. Manchmal ging sie zum Tchip Burger, aber wagte nicht hineinzugehen. Aus Angst, wieder verstoßen zu werden.
»Kennen … Kennen Sie ihn gut?«
Die Rollen hatten sich vertauscht. Jetzt schien Madame de Saint-André eingeschüchtert.
»Ein bisschen.«
»Sind Sie … Ich bin indiskret, Mademoiselle, aber …«
Sie hielt es nicht mehr aus: »Lieben Sie ihn?«
»Ja«, antwortete Cécile.
Denn es war ›ja‹, und zwar mit ganzem Herzen. Madame de Saint-André nahm ihre Hand und drückte sie. Das war alles. Sie stand auf.
»Wenn ich etwas Neues erfahre … Sobald ich Neuigkeiten habe, rufe ich Sie an.«
Sie lächelten sich zu, wie es nur selten zwei Frauen tun, die denselben Mann lieben.
Martial de Saint-André, der in Wirtschaftskreisen bekannte Anwalt, hatte also eingewilligt, sich nach seinem idiotischen Sohn zu erkundigen. Wie er seiner Frau gesagt hatte, musste er sowieso Mandanten in Paris besuchen. Zuerst klapperte er telefonisch die Polizeistationen ab. Sein gleichgültiger und ironischer Ton,
Ja, guten Tag, mein Sohn hatte nicht zufällig die gute Idee, die Nacht bei Ihnen zu verbringen?
, wurde nach und nach ein wenig gereizt. Dann überkam ihn Unruhe. Ein Junge verschwindet nicht einfach so. Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu. Er musste seine Frau anrufen und ihr sagen, dass er bis jetzt nichts erreicht habe und er in seiner Pariser Zweitwohnung übernachten würde.
Zum Abendessen begnügte er sich mit einem Sandwich, dann beschloss er, alle Pariser Krankenhäuser anzurufen. Je öfter er bei den verschiedenen Aufnahmen die Beschreibung seines Sohnes wiederholte:
Ein junger Mann, blond, mittelgroß, dreiundzwanzig, graue Augen …
, desto stärker überkam ihn Traurigkeit. Diese Traurigkeit, die er seit fünf Jahren nicht in sich sehen wollte. Monatelang hatte er geglaubt, Eloi werde ausgehungert, ermattet, von der Wirklichkeit besiegt nach Hause zurückkommen. Aber dieser üble Kerl hatte durchgehalten, hatte sich von einem kleinen Job hier zur nächsten miesen Arbeitsstelle dort gehangelt.
Dreiundzwanzig, ja, ein schöner Junge, graue Augen …
Und je öfter er seinen Sohn beschrieb, desto stärker brach die Bewunderung in seiner Stimme durch.
»Ja, wir haben einen jungen Mann in die Notaufnahme bekommen«, sagte endlich eine Frau am Telefon. »Ohne Ausweispapiere. Den hat uns der Rettungsdienst gebracht.«
Martial atmete langsam ein: »Ist er immer noch bei Ihnen in der Klinik?«
»Ich erkundige mich, Monsieur, bleiben Sie dran.«
Fünf Minuten vergingen. Fünf Jahrhunderte.
»Ja, hallo?«
»Ich bin dran.«
»Er ist auf der Intensiv. Ein blonder junger Mann. Er trug eine Art Kampfhose …«
Martial wollte nicht mehr hören.
»Ich komme. Das ist mein Sohn.«
Beim Aussprechen dieser Worte spürte er, dass er wieder von Eloi Besitz ergriff. Ob der Junge das wollte oder nicht, er war sein Sohn.
Bichat-Krankenhaus. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag hatte die Ambulanz des Rettungsdienstes einen jungen Mann eingeliefert.
»Mir wurde etwas von einer Prügelei unter jungen Leuten auf einem Bahnsteig erzählt«, sagte der Notarzt. »Er ist noch nicht aus dem Koma erwacht.«
»Kann ich ihn sehen?«, fragte Martial.
Der Arzt sah ihn zögernd an.
»Ich muss ihn identifizieren«, fügte Martial hinzu.
Der Arzt war einverstanden. Er führte Martial zur Intensivstation, wo mehrere Personen in abgetrennten Räumen lagen. Ein regloser junger Mann mit geschlossenen Augen, intubiert und beatmet, lag unter einem einfachen Laken. Die Maschine schien an seiner Stelle zu leben.
»Er heißt Eloi de Saint-André«, sagte sein Vater leise.
Und noch leiser, als fürchte er, ihn zu wecken: »Das ist mein Sohn.«
Madame de Saint-André hielt Wort. Kaum hatte sie Neuigkeiten von Eloi, rief sie Cécile an. Es war ein Uhr morgens. Cécile war eingeschlafen, den Telefonhörer in der Hand.
»Mademoiselle Barrois? Wir haben ihn gefunden. Er ist im Bichat. Er liegt im Koma, so wie …«
So wie damals, als ihm Jugendliche seine Jacke geraubt hatten. Aber Madame de Saint-André wollte das nicht näher ausführen und schloss mit fester Stimme: »Ich fahre, um meinen Mann im Krankenhaus abzulösen. Sobald Eloi zu Bewusstsein kommt, benachrichtige ich Sie.«
Als sie in der Klinik in dem Raum stand, in dem Eloi um sein Leben kämpfte, sah sie ihren Mann, der auf einem Stuhl
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