Ein Ort wie dieser
Seine Frau saß ihm im Morgenmantel gegenüber, noch nicht ganz wach.
»Hast du eigentlich in der Zeitung gesehen, dass in Boulogne-sur-Mer Leute verurteilt wurden, weil sie illegale Einwanderer bei sich beherbergt haben?«, fragte sie. »Kannst du dir vorstellen, dass die Polizei hier oder in der Schule auftaucht?«
»Wir beherbergen Minderjährige, Élisabeth. Gib mir die Butter. Minderjährige können nicht ausgewiesen werden. Das hat mir Monsieur de Saint-André noch kürzlich am Telefon bestätigt.«
Georges benutzte absichtlich den Familiennamen von Eloi, da er wusste, dass seine Frau ein Faible für Namen der höheren Gesellschaft hatte.
»Möchtest du, dass diese Kinder – deren kleinstes noch keine zwei Jahre alt ist – auf der Straße auf Kartons schlafen und sich aus Mülltonnen ernähren?«
Madame Montoriol sah ihn entrüstet an. Wie konnte ihr Mann sie einer solchen Grausamkeit verdächtigen? Aber trotzdem …
»Wären diese Kinder in ihrem Land nicht besser aufgehoben?«, fragte sie vorsichtig.
»Dort hat man ihre Verwandten getötet, man hat ihnen ihren Besitz geraubt, ihr Haus abgebrannt …«
Er senkte die Stimme, aber es war ihm wichtig, auch das zu sagen: »… und ihre Mutter vergewaltigt. Willst du sie dorthin zurückschicken?«
Sie senkte den Kopf, aber gab sich nicht vollständig geschlagen. Wahrscheinlich übertrieben diese Leute.
»Ich habe Angst um dich, Georges. Du hast so was noch nie gemacht. Sei vorsichtig.«
»Ich bin vorsichtig.«
Er wusste, dass er sich auf gefährliches Terrain begeben hatte. Aber er fühlte stets Alphonses Blick auf sich. Er klopfte an die Tür seines Schülers, der schon gefrühstückt hatte.
»Bereit, junger Mann?«
»Ja, Monsieur.«
Alphonse hatte schon seinen Rucksack auf. Er warf einen letzten Blick auf das kleine Zimmer, das ihn beherbergte.
»Das ist wirklich schön. Es ist gut, wenn man es warm hat.«
Es waren genau diese Sätze, die Georges in seinem Entschluss bestärkten.
Als er zur Schule kam, stürzte Melanie Muller aufgeschreckt wie ein Huhn, das vor einem Auto über die Straße rennt, auf ihn zu.
»Ach, Georges! Cécile! Cécile hat angerufen … Sie kann nicht kommen …«
»Was ist mit ihr?«
»Ich weiß nicht. Aber was machen wir mit der Ersten?«
»Wir verteilen sie auf die anderen Klassen. Wo ist das Problem?«
Er war sehr verärgert. Bekam Cécile Angst, weil sie den 15 . Januar näher rücken sah? Sie würde sich doch wohl nicht krankschreiben lassen!
In der 10 -Uhr-Pause rief er bei den Barrois’ an, aber vergeblich. Als er um zwölf in die Kantine wollte, sah er Cécile über den Hof gehen. Die Erstklässler, die sich aufgestellt hatten, lösten sich aus der Reihe und liefen zu ihr.
»Wo warst du, Madame?«
»Bist du krank?«
Georges schob sie zur Seite und schüttelte dabei ein paar Schultern: »Na, na, na, geht euch mal wieder aufstellen.«
Er bedeutete Cécile, ihm in sein Büro zu folgen. Er hatte sofort ihr aschfahles Gesicht und die dunklen Ringe um die Augen bemerkt.
»Es war doch nicht nötig, sich herzubemühen«, sagte er und deutete auf einen Stuhl. »Es hätte genügt, mir ein ärztliches Attest zu schicken.«
»Ich bin nicht krank, ich hätte kommen sollen. Aber …«
Sie rang die Hände: »Ich hatte nicht die Kraft. Eloi wurde verhaftet.«
Georges zuckte zusammen, als er an sein Gespräch beim Frühstück dachte.
»Hat er Monsieur und Madame Baoulé bei sich beherbergt?«
Cécile warf ihm einen verständnislosen Blick zu.
»Nein, nein, er … Ich weiß, dass er das nicht hätte tun dürfen. Und Gil auch nicht.«
Dann erzählte sie, was in der Nacht zuvor geschehen war. Und das schreckliche Ende: Eloi war nirgends, weder zu Hause noch im Vereinsbüro. Nathalie war ebenfalls unauffindbar. Georges wollte etwas Beruhigendes sagen: »Sie sind vorübergehend in Gewahrsam genommen worden und irgendwo auf einer Pariser Polizeistation. Die Polizei wird sie wieder freilassen. Aber sie werden sich vor Gericht für ihre Taten verantworten müssen.«
»Gil sagte, Eloi hätte sich mit einem Polizisten geprügelt.«
Georges seufzte.
»Ihr Eloi ist ein Hitzkopf.«
Er hatte die Gefühle der jungen Frau erraten.
»Ich frage mich, ob seine Eltern informiert wurden«, sagte er halblaut.
»Ich glaube, sie sind zerstritten …«
»Auch das noch«, murmelte Georges und stand auf. »Ich müsste ihre Adresse haben.«
Er suchte in seinen Unterlagen und zog die Akte von Eglantine heraus.
»Der
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