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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
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einer zu vollen Woche. Wie immer sehnte sie sich danach, hatte aber auch Angst davor, Eloi zu sehen. Als sie in den Tchip Burger kam, hatte sie sich noch nicht entschieden, ob sie ihre Bestellung an der Kasse des jungen Mannes aufgeben würde oder nicht.
    »Er is’ nicht da«, begrüßte Gil sie.
    »Wer bitte?«
    »Eloi. Er ist gefeuert worden.«
    »Gefeuert?«
    Cécile drehte den Kopf zu den Kassen. Eloi war nicht an seinem Platz, und der Service war dadurch sichtlich durcheinandergeraten.
    »Vielleicht ist er krank?«, fragte Cécile.
    »Nein, sein Chef hat ihn gefeuert. Weil Eloi illegalen Einwanderern hilft. Dieser Louvier ist ein rassistisches Arschloch. Er hasst die Baoulés.«
    Cécile starrte ihren Bruder an. Sie begriff nichts. Gil war nie begabt im Erzählen gewesen und noch weniger im Erklären. Übrigens hatte er die kindliche Vorstellung, dass seine ältere Schwester in seinen Kopf hineinsehen könne und daher genauso viel wusste wie er. Nach einem Dutzend Fragen, die Gil aufs Äußerste reizten, begann Cécile zu denken, der Chef des Tchip Burgers habe etwas gegen illegale Arbeiter und alle, die ihnen helfen.
    »Und was macht Eloi jetzt?«, fragte Cécile besorgt.
    »Weiß nicht. Ich frag ihn. Ich seh ihn am Donnerstagabend.«
    Dann fügte er hinzu – wobei er den Blick abwandte, um leichter lügen zu können: »Wir gehen ins Kino. In so’n Schrottfilm für Deppen wie mich.«
    Cécile machte nicht die geringste Bemerkung zu der Tatsache, dass er am nächsten Morgen Schule haben würde. Sie wünschte sich Neuigkeiten von Eloi.
     
    Am Donnerstagabend packte Gil eine Spraydose und Stifte in seinen Rucksack.
    »Ciao, Sissi!«
    Nachdem Cécile ihrer Mutter gute Nacht gewünscht und den kleinen Leon auf dem Schlafsofa im Wohnzimmer zugedeckt hatte, knipste sie ihre Schreibtischlampe an und machte sich an die Arbeit. Es war der 13 . Januar. Nur noch zwei Tage bis zur Zeit des Killers. Cécile fabrizierte wie am Fließband Unterrichtsentwürfe für jedes Fach. Der Turnunterricht inspirierte sie wahnsinnig:
Aufwärmen im Hof. Hüpfen wie ein Hase, wie ein Frosch, wie ein Känguru. In einer Reihe gehen und wieder zur Ruhe kommen. Ziel: lernen, Anweisungen zu folgen.
Sobald sie eine Karte mit der größtmöglichen Schrift vollgeschrieben hatte, nahm sie eine andere. Und es ging weiter:
Kleine Schritte, große Schritte im Hof …
Sie nagte an ihrem Stift. Ach, was soll’s:
Hase, Frosch, Känguru.
    Jeden Abend ging sie erst nach Mitternacht zu Bett. Auf diese Weise hatte sie es geschafft, ihr komplettes Klassenbuch ins Reine zu schreiben. Außerdem hatte sie ihren pädagogischen Ansatz beim Lesenlernen ausführlich schriftlich dargelegt und mit zahlreichen Ausrufezeichen ihre Theorie begründet, wonach Phantasie die Grundlage für jegliches Lernen war!!! Nach und nach hatte sie das Gefühl bekommen, sie sei unangreifbar und alles, was sie im Unterricht machte, sei im Grunde sehr, sehr gut!!!
    An diesem Donnerstag wollte sie arbeiten, bis Gil zurückkommen würde. Aber Mitternacht verstrich, und die Müdigkeit brannte ihr in den Augen und lastete ihr schwer auf den Schultern. Sie legte die Arme auf den Schreibtisch und den Kopf darauf, oh, nur zwei Minuten. Als sie überrascht aufschreckte, war es Viertel nach Zwei. Sie hatte Gil nicht nach Hause kommen gehört und würde daher vor dem Frühstück keine Nachrichten von Eloi erhalten.
    Als sie ins Bett schlüpfen wollte, überkam sie ein Verdacht. War Gil auch wirklich nach Hause gekommen? Sie hatte einen leichten Schlaf und hatte nichts gehört. Sie fühlte, dass sie nicht schlafen konnte, wenn sie sich nicht zuvor vergewissern würde. Sie ging zu Gils verschlossener Tür, öffnete sie einen Spalt und spitzte die Ohren, in der Hoffnung, den tiefen Atem des Schlafenden zu hören. Nichts. Das Zimmer war in völlige Dunkelheit getaucht. Cécile ging auf Zehenspitzen hinein und versuchte, eine Gestalt im Bett zu erkennen. Ihr war beklommen zumute. Sie war fast sicher, dass die Laken noch unbenutzt waren. Die Beine versagten ihr den Dienst, sie setzte sich auf die Bettkante.
    »Gil?«
    Sie fuhr mit der Hand über das Kopfkissen. Er war nicht da. Um halb drei. Er war nicht nach Hause gekommen. Es war ihm etwas zugestoßen. Wo suchen? Wie ihn zurückbringen? Tief aus ihrem Herzen stiegen die ersten Worte eines Gebets auf:
Vater unser im Himmel … O Papa, Papa.
Zu müde, zu einsam, sie konnte nicht mehr. Sie hatte das Bedürfnis, Leon zu wecken und die Wartezeit

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