Ein paar Tage Licht
als die Mohameds. Die Razzia durch das Militär im September 1995, der Vater verhaftet, neun furchtbare Tage des Wartens, dabei war er angeblich nach zwei Tagen freigelassen geworden. Mit sechzehn begann Djamel, ihn zu suchen. Jeden noch so vagen Hinweis überprüfte er, überall im ganzen Land. Es gab viele Hinweise – Tausende Männer waren während des »schwarzen Jahrzehnts« verschwunden. Vormittags ging er in die Schule, anschließend suchte er seinen Vater. »Ich war ein schlechter Schüler«, sagte er.
Mohamed nickte lächelnd.
Längere Reisen hatte Djamel sich für die Ferien aufgehoben, entlang der Küste nach Ost und West, tief in die Kabylei hinein, in die Sahara. Er sprach mit Hunderten Menschen, die einen Vater oder Bruder verloren hatten, sah zahllose Fotografien von Verschwundenen oder Toten, ließ sich trösten und tröstete selbst. Er lernte die wahre, inoffizielle Geschichte seines Landes kennen.
Mit zwanzig akzeptierte er, dass er seinen Vater nicht wiedersehen würde.
»Ich denke, sie haben ihn im Serkadji getötet, einen oder zwei Tage nach der Razzia. Sie werden ihn gefoltert haben, und vielleicht ist er gestorben, ohne dass es beabsichtigt war.«
»Ich verstehe es bis heute nicht«, sagte Aziz. »Keiner war harmloser als Mouloud Benmedi.«
»Er war oft bei den Imamen, er war sehr gläubig, schrieb theoretische Abhandlungen über den Koran. Sie dachten, er sympathisiert mit den Bärtigen. Sie hätten seine Texte lesen sollen.«
»Es war ihnen egal«, sagte Aziz. »Einer mehr oder weniger, das spielte keine Rolle.«
Mohamed hob eine Hand, deutete auf Djamel, Aziz, sich selbst. »Und deshalb all das? Um dich an ihnen zu rächen?«
»Nein, so einfach ist es nicht«, erwiderte Djamel.
»Rache hat damit nichts zu tun«, sagte Aziz. »In unserem Land sollen endlich das Volk und seine Vertreter bestimmen, nicht mehr das Militär und der Geheimdienst und die Ölbonzen. Die, die gewählt wurden, nicht mehr le pouvoir . Deshalb all das.«
Sie schwiegen.
»Wir müssen weiter«, sagte Aziz.
Wieder ergriff Mohamed Djamels Handgelenk. »Jetzt haben wir uns einander erklärt und können einander vertrauen. Ich gebe dir und deinen Leuten meinen Sohn und meinen Enkel, und ihr führt sie in ein neues Algerien, in dem wir Harkis und unsere Nachfahren willkommen sind.«
»Ja«, sagte Djamel und legte seine Hand auf die Mohameds.
Sie verließen das Restaurant durch den Kücheneingang, gelangten in einen ummauerten Hof. Es war jetzt dunkel und feucht, Nebelschwaden zogen über ihnen dahin. Djamel dachte, dass dem Harki die algerische Sonne guttun würde, er würde in der Sonne vergessen können, vielleicht mit einem Lächeln sterben, nicht mit dem Zorn und der Verbitterung.
Mohamed zeigte auf einen mächtigen alten Citroën. Ein Mann um die fünfzig stand davor, der Sohn. Er hatte ein faltiges, helles Gesicht, einfache Augen, und die Hand, die Djamel ergriff, war breit und kräftig und kühl wie die des Vaters.
Sie setzten sich im Fond vor die Rückbank, zogen die Köpfe ein. Aziz knurrte, der Anzug bekam ein paar Falten, die Hose ein paar Flecken. »Ich will eine saubere Revolution«, murmelte er.
Djamel lächelte.
Während sie aus dem Hof rollten, dachte er an Mohameds Worte. Deshalb all das? Um dich zu rächen?
Am Anfang hatte die Sehnsucht gestanden, in einem Land zu leben, in dem Menschen nicht zu Tausenden verschwanden, ohne dass ihr Schicksal jemals aufgeklärt wurde. In dem die, die sie hatten verschwinden lassen, nicht ohne Strafe davonkamen.
Erst später, als die Regierung Bouteflika Nachforschungen nach den Verschwundenen quasi unter Strafe gestellt hatte, war in ihm das Bedürfnis nach Rache entstanden. Der Staat hatte ihm den Vater genommen und nahm ihm nun auch noch das Recht, sich Gewissheit zu verschaffen. Ein Verschwundener hatte keine letzten Worte hinterlassen, er hatte kein Grab, keinen Todestag, man konnte seiner nicht gedenken. Man konnte nicht Abschied nehmen.
Dafür wollte er sich rächen.
Weil er die Namen der Mörder und jener Männer nicht kannte, die in den letzten Momenten bei seinem Vater gewesen waren, würde er sich an dem einzigen Beteiligten rächen, dessen Namen er herausgefunden hatte: jenem General, der mit einem Dutzend Soldaten am Spätnachmittag des 27. September 1995 die Wohnung der Benmedis in der Rue Abdelaziz Hamoua betreten hatte, um den Vater zu holen.
General Ibrahim Soudani.
22
IRGENDWO IN ALGERIEN
Richter saß auf dem Boden, aß salziges
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