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Ein paar Tage Licht

Ein paar Tage Licht

Titel: Ein paar Tage Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bottini
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über siebzig. Seit mehr als fünfzig Jahren war er nicht mehr in der Heimat. Er bekommt nicht mal ein Touristenvisum, um seine Geschwister zu besuchen. Tausenden geht es wie ihm. Ist es nicht Zeit, das zu ändern?«
    »Nein«, sagte Djamel. »Nicht jetzt, nicht in den kommenden Monaten. Aber wenn du dich für Mohamed verbürgst, bin ich einverstanden.«
    »Das tue ich.« Aziz sprang auf und winkte in Richtung Theke, wo Mohamed auf einem Schemel saß. Er trat zu ihnen, setzte sich ans Kopfende, wurde sehr klein, der Rücken krumm. Aziz schob ihm die Zigarettenschachtel hin, er lehnte ab.
    »Mein Freund weiß nicht, ob er dir vertrauen kann«, sagte Aziz.
    »Und ich«, entgegnete Mohamed, »weiß nicht, ob ich ihm vertrauen kann.« Seine Stimme war feindselig, der Blick unnachgiebig. Djamel spürte den mühsam unterdrückten Zorn, der sich in einem halben Jahrhundert angesammelt hatte. »Ich gebe ihm meinen Sohn und meinen Enkel, ohne ihn zu kennen.«
    »Sie fahren einen der Transporter«, erklärte Aziz.
    »Ich verstehe«, sagte Djamel. »Den für Le Havre?«
    »Sprich mit niemandem darüber, bevor es nicht so weit ist, hat Aziz mir befohlen«, sagte Mohamed. »Also frag ihn.«
    »Le Havre«, bestätigte Aziz mit einem Schmunzeln.
    Mohamed ergriff Djamels Handgelenk, drückte es leicht. Selbst in seinen kalten Fingern meinte Djamel den Zorn, die Verbitterung zu spüren. »Aziz hat mir gesagt, dass ihr anders seid. Dass für euch keine Rolle spielt, was vor sechzig Jahren geschehen ist. Der FLN , der Krieg, die Harkis. Reden wir darüber, hat er gesagt. Und dann sehen wir nach vorn, schließlich sind wir alle Algerier.«
    »Er hat recht«, sagte Djamel.
    »Ihr wollt ein freies Algerien, hat er mir gesagt.«
    Djamel nickte.
    »Und dennoch vertraust du mir nicht, weil ich ein Harki bin.«
    Die Finger drückten erneut zu, dann zog Mohamed die Hand zurück. Die wässrigen Augen ruhten auf Djamel, während er sich eine Zigarette nahm.
    »So ist es.«
    Djamel hatte bis zu diesem Tag nie einen Harki getroffen, aber er war mit dem Misstrauen gegen sie aufgewachsen wie mit den Mythen um den FLN : die Harkis Verräter und Kollaborateure, der FLN Algeriens ewiger Heilsbringer.
    Die Mythen waren längst zerstört.
    »Erzähl mir, was damals passiert ist«, sagte er.

20
    ALGIER
    Es war für Ende Oktober ungewöhnlich kalt, vor den beleuchteten Schaufenstern Atemschleier, im Rinnstein lagen erbsengroße Hagelkörner. Wenn der Verkehr in der Rue Didouche Mourad für Momente ruhte, hörte Eley die Geräusche der Feuchtigkeit, das Gluckern in den Wasserrohren der düsteren Kolonialgebäude, in den Gullys und Abflüssen, als hätte die Stadt die Nässe noch in den Gelenken. Schwermütige Geräusche in einer schwermütigen Stadt.
    Der Spätnachmittagskaffee an der Bar des »L’Espagnol«, Small Talk mit dem desinteressierten Kassierer, einem einfachen, untersetzten Mann, auf dem grünen Poloshirt Fettflecken und ein paar Teigkrümel. Tag für Tag stand er an der Kasse, auch er wirkte schwermütig, alles geschah in Algier irgendwie leiser, langsamer, furchtsamer als anderswo. An der Wand hinter ihm hing ein vergrößertes Schwarz-Weiß-Foto, ein schmaler FLN -Kämpfer, auf ein Gewehr gestützt, die Hosen leicht ausgebeult. Ein unschlüssiger Mensch, fand Eley, ein Familienvater im Krieg, man konnte sich kaum vorstellen, dass er mit dem Gewehr umzugehen wusste.
    C’est l’Espagnol?
    Oui, oui, c’est l’Espagnol.
    Er ging hinaus, auf die neumaurische weiße Grande Poste zu, an den Schläfen ein vertrautes Pulsieren. Allen Wegen, denen er in Algier folgte, folgte er ohne Amel, alle Straßen, Gebäude, Parks sah er ohne sie. Seit Essaouira war das noch schmerzhafter. Seit dem Gespräch in Toumis Büro am Vortag. Je näher er ihr kam, je häufiger er sie ansah, desto größer wurde die Sehnsucht.
    Am Südende der Place de la Grande Poste eine Handvoll Soldaten in Jeeps, ein Panzer.
    Er bog in seine Straße ein, ging unter den Arkaden der Promenade weiter. Eine prächtige, einen Kilometer lange Reihe französischer Stadthäuser aus dem frühen 20.   Jahrhundert, herrschaftlich anzusehen, wenn man sich der Stadt vom Meer her näherte, obwohl das Weiß der Fassaden verblasste, der blaue Lack an den Balkongeländern abblätterte, dazwischen neumaurische Regierungsgebäude in Altweiß. Ist sie nicht wunderschön, meine schreckliche, traurige Stadt?, hatte Amel geflüstert, in einem Sommer auf einem Ausflugsboot in der Bucht, im Pulk der

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