Ein paar Tage Licht
gesehen.«
»Sie lebt nicht in Tizi Ouzou?«
»In Oran.«
»Besuchst du sie manchmal?«
»Nein.« Djamel nahm die Serviette, fuhr sich damit über die Lippen. »Wir waren uns nie nahe.«
Benmedi nickte betroffen. Die Mütter hatten für die Männer dieser Familie keine Rolle gespielt. Nicht für ihn, nicht für Mouloud, nicht für Djamel. Die Väter hatten sie geprägt. Die Väter, die von einem Tag auf den anderen verschwunden waren. Sein Vater beim Massaker von Sétif im Mai 1945 von Kolonisten erschlagen, er selbst im Untergrund und später ausgewandert, Mouloud vom Militär verschleppt und ermordet.
Aber es hatte nicht mit Sétif begonnen, dachte er, sondern erst mit dem Tod Dihias, dem Tag des stummen Vogels. Das Leben Moulouds und Djamels wäre anders verlaufen, wenn er, Youcef Benmedi, in der Blindheit seines Elends damals nicht die falsche Entscheidung getroffen hätte. Wenn er sich nicht für die Rache, sondern für seinen Sohn entschieden hätte.
Djamels dunkler Blick lag auf ihm, prüfend und fern, und Benmedi spürte, dass der Moment, den er so gefürchtet hatte, eingetreten war.
»Warum bist du damals nicht gekommen, Großvater? Als sie ihn geholt haben?«
Benmedi hob die Hände vor die Augen und verbarg das Gesicht vor Scham. Wenn ein Junge den Vater verlor, dann durfte ein verweigertes Visum keine Rolle spielen, dann durfte man nicht dasitzen und auf das Wohlwollen eines Bürokraten warten, man musste sich auf die Reise machen und einen Weg finden, legal oder illegal, man musste den Jungen aus der Verzweiflung retten und ihm ein neuer Vater sein.
Er hatte sich nicht auf die Reise gemacht.
Er hatte telefoniert, war nach Bonn gefahren. Nach Pessin zurückgekehrt, in sein deutsches Leben, weil er das algerische nach Dihias Tod im Grunde seines Herzens gehasst hatte.
»Verzeih mir«, flüsterte er.
Er spürte die fremden Finger an seinen Händen, sanft lösten sie sie von seinem Gesicht, hielten sie fest. »Und du mir«, sagte Djamel.
48
KABYLEI
Ein langer Gang, zu beiden Seiten zahlreiche schmale Türen, die Mauern aus grob gehauenem, dunkelgrauem Stein. Kein elektrisches Licht, kein Strom. Auf Mauervorsprüngen standen Öllampen und warfen flackerndes Licht ins Dunkel, trocken und knapp das Echo ihrer Schritte.
Richters Zelle lag am Ende des Gangs.
»Er weiß, dass Sie hier sind«, sagte Madjer.
Eley nickte.
Er schätzte das Kloster auf einhundert Jahre. Madjer zufolge waren die letzten »echten« Trappisten während des Terrorjahrzehnts nach Europa zurückgekehrt. Die »falschen« lebten seit einem Jahr hier – ein Dutzend Männer in weißem Habit mit schwarzem Schulterüberwurf, dazu ebenso viele »Arbeiter« und weibliche »Haushaltskräfte«. Sie züchteten Gemüse, hatten Ölbäume und Dattelpalmen, ein paar Ziegen. Manchmal wanderten sie in entfernte Dörfer, kauften und verkauften. Einmal die Woche die Reise nach Tizi Ouzou, um die Lebensmittelvorräte aufzustocken und »mit Freunden« zu sprechen. Hin und wieder gab es Überflüge von Militärjets und Hubschraubern, doch bislang hatte die Tarnung ihren Zweck erfüllt. Algerien besaß keine eigene Satellitenüberwachung, war auf amerikanische Hilfe angewiesen. Madjer schien das keine Sorgen zu bereiten, und Eley ahnte, weshalb. Mitglieder der Bewegung saßen an Schnittstellen, konnten rechtzeitig warnen.
Sie blieben vor der letzten Tür des Gangs stehen. »Nur Französisch, Monsieur Eley. Und kein Wort über die Gespräche, die wir mit ihm geführt haben. Geben Sie ihm die Zuversicht zurück. Die Kraft durchzuhalten. Aber bringen Sie ihn und sich selbst nicht in Gefahr.«
Madjer klopfte und schloss auf.
Die Zelle war schmal und länglich, hatte an der hinteren Wand einen vertikalen, rechteckigen Auslass ohne Glasscheibe, etwa fünfzehn Zentimeter breit. Ein Waschbecken, ein kleiner Tisch, ein Stuhl, ein Eimer, an der Seitenwand ein Bett, auf dem Richter saß.
Eley nahm den Stuhl, ging zu ihm, setzte sich vor ihn. Im Vergleich zu den Fotos, die er kannte, sah Richter furchtbar aus, kalkweiß, der Blick verstört, die Haut unter den Augen dunkel, an der Stirn und den Schläfen hatte er verschorfte Kratzer. Seine Hände zitterten im Schoß, die rechte geschlossen, die linke geöffnet. Die Finger waren verdreckt, die Nägel abgebrochen oder abgebissen. Er trug noch dieselbe Kleidung wie am Abend der Entführung, hellblaues Hemd, beigefarbene Stoffhose, beides von zahlreichen kleinen Rissen und Schmutzflecken übersät.
»Sie
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