Ein perfekter Freund
könnte.
Norina.
Fredi Keller. Er hatte ihn bereits angerufen, und seine Sekretärin hatte ihm versprochen, daß er zurückrufen würde.
Doktor Mark, der leitende Lebensmittelingenieur von LEMIEUX, mit dem er ein Gespräch geführt hatte. Er könnte ihm sagen, worüber er recherchiert hatte.
Stefan Rufer, sein Chefredakteur, falls er sich bei ihm für das Arschloch entschuldigt.
Sarah Mathey, Rufers Sekretärin, falls er sich nicht bei ihm entschuldigt.
Lucas Jäger nicht. Die Lokführer.
Die Witwe des Selbstmörders.
Das Ehepaar, das ihn gefunden und die Polizei gerufen hatte. Die Bankauszüge.
Die Telefonrechnung.
Die Kreditkartenabrechnung.
Als Fabio den Eistee bezahlte, klingelte sein Handy. Er erkannte die Stimme, als ob er sie erst gestern gehört hätte: Fredi.
»Setz dic h in ein Taxi, und fahr ins Bertini«, befahl der. »In einer Viertelstunde bin ich dort.«
»Ins Bertini? Bei dieser Hitze?«
»Das Bertini ist klimatisiert.«
Die Klimaanlage schaffte es nicht, im Bertini eine sommerliche Atmosphäre zu erzeugen. Das Lokal sah aus wie im Winter, roch wie im Winter und führte eine Speisekarte wie im Winter. Das einzig Unwinterliche war die Raumtemperatur. Im Winter war es im Bertini wärmer.
Fabio hatte sich verspätet. Er hatte natürlich kein Taxi genommen, sondern war vorsichtig durch den Stoßverkehr geradelt. Als er das Bertini betrat, saß Fredi allein an einem Vierertisch und hatte einen fast leeren Campari vor sich stehen.
Im Gymnasium war Fredi ein großgewachsener, kräftiger Junge gewesen. Und in der Fußballmannschaft ein guter, wenn auch manchmal etwas allzu lässiger Libero. Seither hatte er bestimmt dreißig Kilo zugenommen. Seine Figur hatte sich nicht groß verändert, das Übergewicht war gleichmäßig auf seinen Körper verteilt. Aber das Gesicht war kaum wiederzuerkennen. Nase, Backen, Augen, Lippen - alles sah aus, als würde es von etwas nach außen gedrückt.
Fredi trug einen leichten, dunkelgrauen Anzug, dessen Ärmel bis zur Hälfte seiner dicken, behaarten Unterarme zurückgeschoben waren. Er hatte die Ellbogen aufgestützt und ließ die Hände baumeln. Ab und zu angelten sie ihm das Glas oder ein Grissini, ohne daß sich die Arme dabei groß bewegten.
»Ciao«, sagte er nur. Kein Wort über die Verspätung.
Kaum hatte sich Fabio gesetzt, begann der Kellner den Tisch mit kleinen Tellerchen auszulegen. Gegrillte Zucchetti und Auberginenscheiben, Schinken, Salami, Sardinen, Oliven, eingelegte Tomaten, Artischockenböden. In die Mitte stellte er einen beschlagenen Halbliterkrug Frascati. Fabio bestellte einen Liter San Pellegrino.
»Deswegen?« fragte Fredi und ließ seine schlaffe Rechte einen Schlenker in Richtung seines schütteren Haarwuchses machen.
»Ich trinke auch sonst nichts am Mittag.«
»Seit wann das?«
»Ich habe eine Gedächtnislücke.«
»Das habe ich gehört. Wie ist das?« Fredis Hand ließ jetzt eine Gabel über den Tellerchen kreisen. Ab und zu stach sie auf eines hinunter und holte sich ein Häppchen. Fredi sprach nicht mit vollem Mund, deshalb kaute er kaum und hielt seine Sätze kurz.
»Wie wenn du mit einem Kater aufwachst und statt ein paar Stunden ein paar Wochen vergessen hast.«
»Aber es fällt dir wieder ein?«
Fabio legte sich jetzt auch ein paar Antipasti auf den Teller.
»Bis jetzt ist mir noch nichts eingefallen.«
»Und das?« Fredi zeigte mit der Gabel auf Fabios Kopf. Der hatte die Mütze abgezogen und neben sich auf die Bank gelegt. Die rasierte Stelle war zu sehen. »Tut das weh?«
Fabio schüttelte den Kopf. Fredis Gabel deutete etwas tiefer, auf die gelbgrüne Stelle unter seinem rechten Auge. »Und das?«
Fabio zeichnete mit dem Finger einen Kreis auf seine rechte Gesichtshälfte. »Im Gegenteil. Das alles ist gefühllos.«
Die Tellerchen waren fast leer. Fredi hob die Hand und winkte den Kellner heran. »Nimmst du etwas vor dem Brasato?« Der Manzo Brasato war eine Spezialität des Bertini. Er wurde mit einem Kartoffelpüree serviert, das fast zur Hälfte aus Butter bestand. Fabio winkte ab. Fredi bestellte eine Portion Fettuccine und danach den Manzo Brasato. Fabio ließ die Vorspeise aus und bestellte Spaghetti alle Vongole als Hauptgang.
»Was willst du wissen?« erkundigte sich Fredi. Als er sah, daß Fabio die Frage zu überraschen schien, erklärte er: »Wenn man besoffen war, fragt man ja auch die Leute, die dabei waren, was man getan hat.«
»Wie haben wir uns wieder getroffen, nach zehn Jahren?«
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