Ein perfekter Freund
allmählich etabliert werden. Der Körper sollte gereinigt sein, Blase und Darm, wenn nötig, entleert.«
»Wenn möglich«, rief Kari, vierundsiebzig, dazwischen. Ein paar lachten. Der erste Teil der Übungen hieß »Erde«, weil man in ihm erfuhr, wie man sich auf die Erde stützen und innere Stabilität aufbauen kann. »Es ist wichtig, daß Ihre Bewegungen gleichmäßig, sanft-elastisch, rund-spiralförmig und weit ausgedehnt sind und Ihre Körperhaltung natürlich und aufrecht«, dozierte Horst Weber. »Der Atem wird mit der Körperbewegung synchronisiert und fließt natürlich und sanft, um die physiologischen Funktionen der inneren Organe sinnlich zu aktivieren. Der Geist ist zentriert und ruhig, um so eine wirkungsvolle sinnliche Wahrnehmung der Wirkungen des inneren Trainings zu entfalten.«
Sie übten »wecke das Chi« und »fasse den Vogel beim Schwanz« und »Storch breitet die Flügel aus« und »Tiger umarmen und zum Berg«.
Sie sahen aus wie ein Schwarm arthritischer Kraniche beim Balztanz. Und mitten unter ihnen, bei weitem nicht der Agilste: Fabio Rossi, dreiunddreißig.
Wie ein Unfallwagen, der nach Monaten aus dem See geborgen wurde, ein triefendes Gebilde aus Wasser, Schlick, Tang, Treibgut und Müll, dessen Konturen langsam sichtbar wurden und plötzlich deutlich und scharfkantig vor ihm lagen, tauchte vor Fabio eine Erinnerungsinsel auf.
Er kam aus der Dusche und zog sich vor seinem Garderobenschrank an. Neben ihm stand einer seiner Mitschüler, ein älterer Herr, und kämmte seine noch nassen, schütteren Haare. Er trug nichts als eine für sein Alter und Fabios Geschmack etwas zu knappe, rote Unterhose und ein Kupferarmband. Fabio achtete nicht weiter auf ihn, bis ihm plötzlich ein frischer, scharfer Geruch in die Nase stieg. Der alte Herr hatte ein Flakon in der Linken und tätschelte sich mit der Rechten Rasierwasser ins Gesicht.
Der Geruch weckte eine Erinnerung: Leute, viele Leute, ältere, jüngere, Kinder. Ein See. Ein Restaurant am See. Eine gedeckte Terrasse. Regen. Musik. Ein Einmannorchester. Tischreden. Darbietungen. Norina. Norinas Eltern. Norinas Vater, Kurt. Kurt hat Geburtstag. Einen runden Geburtstag. Kurt wird fünfundsechzig.
Plötzlich war alles da. Norinas Vater feierte seinen Fünfundsechzigsten im Seerestaurant Hecht. Fünfundsechzig Leute waren eingeladen. Die große Seeterrasse war reserviert. Norina war nicht gerne gekommen, sie verstand sich nicht gut mit ihrem Vater. Aber dann amüsierte sie sich doch. Vor allem, weil es regnete. Kurz nach dem Aperitif mußten die Markisen ausgefahren werden. Während des ganzen Festes löcherte der Regen den bleigrauen Seespiegel und trommelte mit der Rhythmusmaschine des Einmannorchesters um die Wette. Kurt ignorierte das Wetter und verordnete, daß jede Erwähnung des Wetters mit einem Kirsch bestraft werde. Nach kurzer Zeit war die halbe Geburtstagsgesellschaft betrunken. Auch Norina, die zehnmal gesagt hatte: »Jeder bekommt das Geburtstagswetter, das er verdient, Papi.«
Papi benützte das gleiche Altherrenrasierwasser wie der Mann im roten Tanga. Pitralon, wenn Fabio sich nicht irrte.
Noch im Korridor des Therapiezentrums stellte Fabio Norinas Nummer ein. Er mußte wissen, wann ihr Vater Geburtstag hatte und ob er dieses Jahr fünfundsechzig geworden war.
Bei ihr zu Hause meldete sich niemand. Der Beantworter ihres Handys sagte: »Norina Kessler, ich bin auf dem Set und kann Ihren Anruf nicht beantworten, rufe Sie aber in der nächsten Drehpause zurück.« Fabio fand den neuen Text ein wenig prätentiös.
Er rief die Auskunft an und ließ sich mit Norinas Eltern verbinden. Niemand meldete sich. Natürlich - falls es stimmte, daß Kurt fünfundsechzig geworden war, waren sie jetzt in ihrem Rustico im Maggiatal. Sie wollten dort nach seiner Pensionierung die meiste Zeit verbringen. Wie oft hatte er das gesagt. »Wenn einer von uns beiden einmal nicht mehr da ist, ziehe ich ins Maggiatal« war einer seiner Lieblingssprüche gewesen.
Fabio fand die Nummer und ließ sich verbinden. Norinas Vater meldete sich.
»Hallo, Kurt, ich bin's, Fabio. Wie geht's?«
»Gut, bevor du anriefst.« Ein anderer von Kurts Lieblingssprüchen. Aber diesmal schien er es ernst zu meinen. Er war sehr kurz angebunden. Immerhin gelang es Fabio, die Bestätigung zu bekommen, daß Kurt Kessler am 12. Mai im Hecht seinen Fünfundsechzigsten gefeiert hatte. Über das Wetter an jenem Tag verweigerte er jede Auskunft.
»Eine Gedächtnisinsel«,
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