Ein perfekter Freund
sagte Dr. Vogel. »Im Ozean des Vergessens taucht plötzlich eine Erinnerung auf. Hat mir immer gefallen, das Bild. Gratuliere.«
Fabio war nach seinen Anrufen verspätet, erhitzt und euphorisch bei Dr. Vogel eingetroffen und saß jetzt fröstelnd im unterkühlten Sprechzimmer.
Dr. Vogel hatte die obersten drei Knöpfe seines Hemdes geöffnet. Sein Doppelkinn war gepudert, eine Bartflechte oder ein Hitzeausschlag.
»Ein Geruch, sagen Sie. Nicht ungewöhnlich. Gerüche. Bilder und Gerüche sind die stärksten Stimulanzien für das Gedächtnis.«
»Bedeutet das, daß ich mit weiteren Gedächtnisinseln rechnen kann?« wollte Fabio wissen.
»Tun Sie das. Rechnen Sie damit. Aber seien Sie nicht enttäuscht, wenn sie ausbleiben.«
»Ach, das kommt auch vor?«
»Ja, beides kommt vor. Alles kommt vor. Das Gehirn ist eine Wundertüte. Aber seien Sie zuversichtlich. Zuversicht ist Teil der Therapie.«
Fabio mußte lachen. »Sie sind wenigstens ehrlich.«
»Verzeihung, das wollte ich nicht.«
Seit einer halben Stunde lehnte Fabio an einer Hauswand und beobachtete einen Eingang auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es war halb neun. Vor einer Viertelstunde hatte es zu dämmern begonnen. Es war immer noch stickig heiß. Manchmal schaute er zu einer Reihe offener Fenster im zweiten Stock hinauf.
Das Haus war ein Gewerbebau aus den dreißiger Jahren. Früher waren dort Werkstätten für Schneider, Setzer, Drucker und Buchbinder untergebracht gewesen. Jetzt waren es Ateliers für Fotografen, Grafiker, Webdesigner, Künstler. Im Keller und im ersten Stock befand sich ein Fitnesscenter, im zweiten ein Tanzstudio und eine Jogaschule. Dorthin ging Norina, wenn es der Job erlaubte, jeden Donnerstagabend.
Vor kurzem war in dem Raum mit den offenen Fenstern Bewegung entstanden. Er hatte ein paar Köpfe gesehen, ein paar Arme, die sich reckten. Die Stunde war vorbei, die Klasse ging in die Garderobe, bald würden die ersten aus dem Hauseingang kommen.
Fabio hatte den ganzen Nachmittag versucht, seine Gedächtnisinsel zu vergrößern. Wie waren sie zum Hecht gekommen? Hatte sie jemand mitgenommen? Oder hatten sie ein Taxi genommen? Hatte sich Norina angesichts der Bedeutung des Anlasses klaglos in die Sache geschickt? Oder hatte er sie, wie immer, wenn es um Familienanlässe ging, überreden müssen?
Und danach? Wie waren sie nach Hause gekommen? Norina hatte zehn Kirsch getrunken. Sie mußte sturzbetrunken gewesen sein. Wie hatte sie die Nacht überstanden? Und wie den nächsten Tag?
Sosehr er sich auch anstrengte, die Ränder der Gedächtnisinsel blieben scharf. Sie reichten exakt vom Apéro - Blanc Cassis - bis zur Polonaise. Er kam nicht weiter ohne Norina. Nicht in dieser Frage, und auch sonst nicht.
Dann war ihm die Jogastunde eingefallen. Er hatte MYSTIC Productions angerufen und herausgefunden, daß sie heute abend nicht drehten.
Jetzt kamen zwei junge Frauen heraus, überquerten die Straße und gingen in ein Gespräch vertieft an ihm vorbei. Er hörte die eine sagen: »Vor dem Meniskus konnte ich den Lotussitz wie du.«
Norina war die vierte, die aus der Tür kam. Auch sie mußte die Fahrbahn überqueren, um in die Seitenstraße zu gelangen, die zu ihrer Wohnung führte.
Als sie Fabio erkannte, blieb sie mitten auf der Straße stehen. Ein Auto näherte sich, und Fabio sah ihr an, daß sie kurz davor war, umzudrehen. Dann überlegte sie es sich und kam auf ihn zu.
»Was willst du?«
»Mir ist etwas eingefallen. Der Geburtstag deines Vaters. Aber ich bin nicht sicher, ob meine Erinnerungen stimmen. Ich dachte, du könntest mir helfen, sie zu überprüfen.«
»Der Geburtstag meines Vaters gehört zu den Dingen, die ich vergessen möchte«, gab sie zur Antwort. Aber sie ließ ihn an ihrer Seite gehen, hörte sich die Details seiner Erinnerungen an und nickte oder schüttelte den Kopf. Meistens nickte sie.
Bei der Polonaise sagte er: »Und hier hört es auf.«
»Bei mir auch.« Er glaubte, den Anflug eines Lächelns zu entdecken. »Ich erinnere mich erst wieder an den Sonntag. Mir war hundeelend.«
Sie gingen schweigend weiter. »Und ich?« fragte er schließlich.
»Du warst nett. Hast mich gepflegt.«
Sie bogen in eine Spielstraße. Große Pflanzeninseln beruhigten den Durchgangsverkehr. An einem großen Holztisch saßen ein paar junge Eltern, schwatzten, tranken Bier und hatten ein Auge auf die Kinder, die in ein undurchschaubares, lautes Spiel vertieft waren.
Norina hatte die Arme verschränkt und
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