Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein perfekter Freund

Ein perfekter Freund

Titel: Ein perfekter Freund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
Vom Netzwerk:
vom Amselweg, Anselmo.
    »Tardelli!« antwortete Fabio.
    »Benetti, Zaccarelli!« fuhr Anselmo fort.
    »Gentile, Cuccureddu, Scirea, Cabrini!« Und beide zusammen: »Zoff!«
    Anselmo strahlte und setzte sich. Fabio hatte nichts dagegen. Ehrlich gesagt: Er war sogar froh über etwas Gesellschaft.
    »Ich habe dich noch nie hier gesehen«, stellte Anselmo fest.
    »Ich bin zum ersten Mal hier. Soviel ich weiß.«
    Der Wirt brachte einen Punt e Mes. Anselmo stellte sie einander vor. »Fabrizio, das ist Fabio aus Urbino.« Sie nickten einander zu. »Fabrizio kommt aus Monza«, erklärte er Fabio. Und zum Wirt: »Was gibt's?«
    »Coniglio.«
    Als der Wirt gegangen war, fragte Anselmo: »Ißt du, oder mußt du heim?«
    Fabio aß. Kaninchen war zwar nicht seine Leibspeise, schon gar nicht an einem heißen Sonntag in einem lauten, verrauchten Quartierlokal. Aber er mußte zugeben: Es war hervorragend. Er ließ sich sogar dazu überreden, bei der Flasche Barolo mitzumachen, die Anselmo bestellte. Selbst die angeblich legendäre Zabaglione versuchte er, er hätte selbst einen Grappa nicht abgelehnt, wenn Anselmo nicht abgewinkt hätte. »Grappa gibt's bei mir den besseren.«
    So kam es, daß Fabio vollgefressen und angesäuselt in der Hauswartswohnung des Amselwegs 74 landete. Er saß auf einem Balkon, wie der von Marlen, an einem Gartentisch, fast wie der von Marlen, und verkostete Grappa.
    Anselmo hatte zwei Kristallgläser gebracht und füllte sie feierlich. »Zuerst nur die Farbe«, dozierte er. »Wir haben zehn Minuten Zeit, um uns nur auf die Farbe zu konzentrieren. So lange braucht ein Grappa um zu erwachen. Trink nie einen Grappa, bevor du ihn nicht mindestens zehn Minuten hast atmen lassen. Darin unterscheidet sich der Kenner vom Trinker.«
    Anselmo hatte zwei Blatt liniertes Schreibpapier mitgebracht. Eines reichte er Fabio, das andere nahm er selbst. Er faßte das Glas am Stiel und hielt es vor das Blatt. Fabio mußte es ihm nachtun.
    »Was siehst du?« fragte Anselmo.
    »Nichts.«
    »Ich sehe Linien auf einem Papier.«
    »Das sehe ich auch.«
    »Siehst du sie klar?«
    »Noch.«
    »Das Wichtigste bei einem jungen Grappa ist die Farbe. Er darf keine haben. Hörst du? Null Farbe. Absolut null.« Anselmo machte eine Pause. »Und?«
    »Keine Farbe«, bestätigte Fabio.
    »Auch keine Unreinheiten? Trübungen? Schlieren?«
    »Nichts«, bestätigte Fabio.
    »Klar wie Quellwasser?«
    »Wie Quellwasser.«
    »Gut. Jetzt die Nase. Drei Sekunden. Mit der Zeit hast du das im Gefühl. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Aber du darfst nicht zählen. Du konzentrierst dich auf nichts als auf deine Nase. Bereit?«
    Beide hielten das Glas unter die Nase.
    »Und?« fragte Anselmo nach drei Sekunden.
    »Riecht gut.«
    »Schimmel, Rauch, Sauerkraut, Ziege, faule Eier oder Schweiß?«
    Fabio wollte noch einmal riechen. Anselmo winkte ab. »Das brauchst du nicht. So was gibt's bei mir nicht. Wenn du bei einem Grappa Schimmel, Rauch, Sauerkraut, Ziege, faule Eier oder Schweiß riechst, kannst du ihn wegschütten. Ein Grappa riecht bei mir nach Nüssen, Erdbeeren, Hyazinthen, Pfirsichen, Rosen, Salbei, Tabak, Lakritze, Vanille, Gewürzen, exotischen Früchten und Äpfeln. Noch einmal drei Sekunden. Bereit?«
    Sie hielten wieder die Nasen über die Gläser. »Und jetzt ein ganz winziges Schlückchen. Aber nicht runterschlucken, in der Mundhöhle zirkulieren lassen, auf die Geschmacksknospen achten: Da darf nichts stechen, da darf nichts fettig schmecken oder langweilig oder bitter. Jetzt!«
    Sie nahmen einen kleinen Schluck und behielten ihn im Mund, bis Anselmo das Zeichen zum Runterschlucken gab.
    »Und?«
    »Wunderbar«, sagte Fabio.
    Anselmo war nicht zufrieden. »Wunderbar, wunderbar, ich dachte, du bist Journalist, da arbeitet man doch mit Wörtern. Wunderbar! Körperlos ist das Wort. Ein guter junger Grappa ist körperlos.«
    »Ich habe kein Gefühl rechts oben.«
    »Wie, kein Gefühl?«
    »Vom Unfall. Zwischen hier und hier ist es taub.« Fabio zeigte ihm die Stelle. »Auch die Lippen. Auch der Gaumen. Auch die Zähne. Vielleicht deshalb.«
    »Auch die Geschmacksknospen?« fragte Anselmo bewegt.
    »Auch die«, bestätigte Fabio.
    »Aber nicht alle?«
    »Etwa ein Viertel.«
    »Dann versuch's noch einmal mit den übrigen.«
    Fabio nahm noch einen Schluck, ließ ihn im Mund, schloß die Augen, wartete, wartete, schluckte und schwieg.
    Anselmo hielt den Atem an.
    »Körperlos«, stellte Fabio fest.
    Anselmo schenkte die Gläser

Weitere Kostenlose Bücher