Ein perfekter Freund
Millionen mit dem Erreger in Berührung gekommen waren. Und bis zu zehn Millionen von ihnen daran erkranken könnten.
Am Abend machte er sich ein belegtes Brot mit Fleischkäse und setzte sich damit vor den Fernseher. Nach dem ersten Bissen legte er es auf den Teller zurück.
13
Das Sonntagsgeläut der Kirchen weckte ihn. Er hatte eine unruhige Nacht hinter sich. Immer wieder war er erwacht und hatte einen Moment gebraucht, um sich in der Wohnung zu orientieren, die ohne Marlen noch fremder war. Er ha tte lange wach gelegen und versucht, sein Hirn daran zu hindern, immer die gleichen diffusen Gedankengänge zu repetieren. Er hatte gespürt, wie die Nacht endlich etwas Kühle brachte, und gesehen, wie sich langsam die Hausdächer abzuzeichnen begannen. Dann mußte er eingeschlafen sein. Nun läuteten die Glocken den Sonntag ein.
Als Kind war er jeden Sonntag in die Kirche gegangen. Es war für ihn eine Selbstverständlichkeit gewesen. Alle, die er kannte, gingen in die Kirche. Und anschließend in die Sonne, etwas trinken.
Auch als er erwachsen wurde, hatte er sich ein unverkrampftes Verhältnis zur Kirche bewahrt. Er war nicht besonders fromm, er war sich nicht einmal sicher, ob er gläubig war, aber es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, auszutreten. Es kam selten vor, daß er eine Kirche betrat, aber dann bekreuzigte er sich und küßte den Daumen.
Fabio stand auf, machte sich einen Espresso, setzte sich auf den Balkon und lauschte den feierlichen Glockenklängen.
Ein unbestimmtes Heimweh überkam ihn. Nach früher. Nach Italien. Nach richtigen Sonntagen. Nach Norina.
Die Glocken klangen aus. Zuerst die in der Nähe, dann nach und nach die anderen. Es wurde still. In den Kirchen begannen die Gottesdienste.
Vielleicht sollte er wieder einmal in eine Messe gehen, dachte Fabio. Möglicherweise auch ein Weg, um seine Mitte wiederzufinden.
Er trödelte bei der Morgentoilette und zog eine neue Hose an und sein letztes gebügeltes weißes Hemd. »Wäscherei!« notierte er für Montag in seiner Agenda.
Er rief seine Mutter an. »Ist etwas?« fragte sie erschrocken, als sie seine Stimme hörte.
Er nahm sich vor, sie öfter anzurufen.
Die ersten Glocken läuteten bereits den Gottesdienst aus, als Fabio das Haus verließ. Er hatte kein bestimmtes Ziel, außer daß er sich irgendwo in der Nähe Zigaretten kaufen wollte. Das erste eigene Päckchen, seit er sich erinnern konnte.
Wo der Amselweg in die Rebenstraße mündete, stand ein Mehrfamilienhaus aus den siebziger Jahren. Im Erdgeschoß befanden sich eine chemische Reinigung und das Restaurant Amselgarten. Fabio ging hinein, setzte sich an einen kleinen Tisch und bestellte einen Milchkaffee und Zigaretten.
Er hatte absichtlich den SONNTAG-MORGEN in Marlens Briefkasten gelassen. Aber jetzt, als er ihn an einem Zeitungshalter bei der Garderobe hängen sah, konnte er doch nicht widerstehen.
Die Zeitung war dünn. In Umfang und Inhalt. Eine richtige Sommerlochnummer mit wenig Werbung und gesuchten Themen. Ein paar Hintergründe zu den Meldungen von gestern, Ferieninterviews mit Politikern, ein Führer durch die Badeanstalten des Landes, Prominente verrieten ihre Hitzerezepte.
Das Lokal füllte sich jetzt schnell mit Kirchgängern, die zum Aperitif in den Amselgarten kamen. Er war eines der drei Restaurants in der Nähe der katholischen Kirche.
Fabio hatte keine Lust, sein Tischchen mit Fremden zu teilen, und verkroch sich hinter der Zeitung.
Sein Nachfolger, Reto Berlauer, machte sich auf einer Doppelseite mit einer Reportage über den ersten tamilischen Bergführer breit. Bestimmt ein Abfallprodukt seiner Geschichte über japanische Reisegruppen.
Rufer war offenbar in den Ferien, denn das editorial stammte von Lucas Jäger.
Fabio brachte es nicht über sich, es zu lesen. Aber das Foto mußte er anschauen. Es war neu. Lucas blickte über die Schulter, als ob es seine Zeit nicht erlaubt hätte, für das Foto kurz den Arbeitsplatz zu verlassen. Sein Haar war frisch getrimmt, sein Gesichtsausdruck eine Mischung aus seriös und sarkastisch. Er sah gut aus. Besser als in natura, fand Fabio.
Der Wirt brachte den Kaffee und die Zigaretten. Fabio rollte die Zeitung um ihren Halter und legte sie auf den Tisch. Lucas durfte also ein editorial schreiben. Das war zu seiner Zeit (und soviel er wußte) noch nie vorgekommen. Was steckte hinter diesem Karriereschritt? Die große Sache?
»Causio, Rossi, Bettega«, sagte eine Stimme über ihm. Es war der Hauswart, die Amsel
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