Ein perfekter Freund
es hilft ihnen. Die Wahrheit ist: Man haßt diese Menschen nicht, man fühlt sich ihnen verbunden. Man ist Teil ihres Schicksals.«
Frau Gubler brachte ein Tablett mit zwei Gläsern, einer Zuckerdose und einem beschlagenen Krug. Ohne zu fragen, schenkte sie die Gläser voll. »Zitronenlimonade. Wenn sie Ihnen zu sauer ist: Hier ist noch mehr Traubenzucker.«
Als sie gegangen war, fuhr Gubler fort: »Man ist nicht wütend, das können Sie mir glauben. Man ist traurig.«
Fabio war etwas betreten. Er trank einen Schluck Limonade.
»Was ist da drin?« fragte er, um etwas zu sagen.
»Frisch gepreßte Zitrone, Wasser, Eis und etwas Traubenzucker. Sie wollten mich etwas über Andreas Barth fragen.« Er sprach den Namen aus wie den eines alten Bekannten.
»Man rätselt immer noch, weshalb er sich das Leben genommen hat. Aber es gibt Hinweise, daß es mit seiner Arbeit zu tun haben könnte.«
Gubler nickte und hörte zu.
»Es ist eine sehr vage Vermutung: Er könnte auf eine Sache gestoßen sein, die ihn in Schwierigkeiten brachte.«
»Was für eine Sache?«
Fabio zuckte die Schultern. »Er war Lebensmittelkontrolleur. Vielleicht hat er etwas aufgedeckt, das einem anderen unangenehm war.«
»Und was hat das mit mir zu tun?«
»Könnte es sein, daß Andreas Barth nicht freiwillig auf dem Gleis stand? Daß ihn jemand gestoßen hat? Oder sonst gezwungen?«
»Das hat mich die Polizei damals auch gefragt. Es ist eine der Routinefragen.«
»Und was haben Sie geantwortet?«
»Ich könne es nicht sagen. Das ist die Routineantwort. Aber unter uns: Er stand einfach da und wartete. Den hat niemand gestoßen. Und auch nicht gezwungen. Ich habe seine Augen gesehen. Er wollte es.« Fabio nickte nachdenklich. »Paßt nicht in Ihr Konzept, hab ich recht?«
Fabio fühlte sich ertappt. »Nicht ganz.«
»Was sagt denn seine Frau zu dieser Theorie?«
»Sie kann mir auch nicht weiterhelfen.«
»Wie geht es ihr?«
»Sie ist in den Ferien.«
»Freut mich zu hören. Damals sah es aus, als stünde sie vor dem Nichts. Ich will Sie nicht rauswerfen. Aber haben Sie sonst noch Fragen? Ich muß die Bewässerung fertig installieren, wir wollen morgen für ein paar Tage weg. So geht es uns pensionierten Lokführern. Halten es nie lange aus, wo die Landschaft stillsteht.«
Beim Abschied sagte Fabio: »Was Sie über meine Geschichte gesagt haben, die These, die ich bestätigen wollte… Ich fürchte, Sie haben nicht ganz unrecht.«
Hans Gubler klopfte ihm auf die Schulter. »Passen Sie einfach auf, daß Ihnen mit Andreas Barth nicht das gleiche passiert.«
Hatte der alte Lokomotivführer recht? Versuchte er wieder, Tatsachen zurechtzustutzen, bis sie zu seiner These paßten?
Es war Abend geworden. Das Fenster stand offen. Der Lärm und die Abgase der Straße drangen herauf. Fabio lag auf dem Bett. Er hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen.
War es möglich, daß es stimmte? Hatte er sich in eine Geschichte verrannt, die ihm schaden konnte? Hatte er deswegen eins auf den Schädel bekommen? War es möglich , daß Lucas die Spuren der Recherche verwischt hatte? Um ihn zu schützen? Aus Freundschaft?
Nein. Ein Freund war Lucas nicht. Ein Freund hätte die Situation nicht ausgenutzt.
Und Norina? Wußte sie, daß Marlen und Lucas sich kannten? Daß Marlen zu Lucas gesagt hatte, Fabio gefalle ihr? Daß Lucas das Zusammentreffen der beiden, wenn auch nicht gerade arrangiert, so doch gefördert hatte? Wußte sie von der Rolle, die ihr Tröster und Retter gespielt hatte? Und vor allem: Wußte sie von Lucas' Besuch - Besuchen? - bei Marlen?
Er ging zum Telefon und stellte Norinas Nummer ein.
»Ja?« Eine Männerstimme.
Der Gedanke, daß Lucas Norinas Telefon abheben könnte, hatte ihm so fern gelegen, daß es ihm einen Moment die Sprache verschlug. Dann sagte er: »Ist Norina da?«
»Nein.«
Stille. Dann sagte Fabio: »Wo ist meine Geschichte, Lucas?«
»Welche Geschichte?«
»Wo ist meine Geschichte?«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Wo ist meine Geschichte?« fragte Fabio zum dritten Mal und legte auf.
Ein Auto mit voll aufgedrehtem Techno-Sound fuhr langsam vorbei. Fabio nahm die Zigaretten vom Nachttisch und zündete sich eine an. »Wo ist meine Geschichte, Lucas?« murmelte er.
Er setzte sich an den Tisch, schaltete das Powerbook ein, öffnete sein Mailprogramm und schrieb: Wo ist meine Geschichte, Lucas?
Es war die erste E-Mail, die er verschickte, seit die
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