Ein perfekter Freund
um zu sehen, ob jemand auf die Schienen gestoßen wurde oder aus eigenem Willen dort stand.
Nur: Wie wollte man jemanden vom Unterholz aus zwingen, sich vor den Zug zu werfen? Mit einer Waffe? Indem man ihm drohte, ihn andernfalls zu erschießen? Warum sollte sich jemand die Mühe machen, einen Selbstmord vorzutäuschen, wenn er auch zu einem Mord bereit war?
Fabio hörte ein Geräusch. Ein Sirren und Singen, das rasch lauter wurde. Dann ein anhaltendes Pfeifen. Es schwoll an. Und mit ihm das Donnern des herannahenden Zuges. Fabio trat zwei Schritte zurück.
Wie eine Explosion knallte die Lok an ihm vorbei. Der Luftdruck brachte ihn einen Moment aus dem Gleichgewicht. Mit ohrenbetäubendem Rattern rasten die Wagen an Fabio vorbei, vorbei, vorbei. Sie ließen ihn zurück in einem grauen Dunst aus Staub und Eisen.
Er kämpfte mit den Tränen.
Um sechs war Fabio mit Hans Gubler verabredet. Er wohnte in einem Außenquartier, ein paar Stationen stadteinwärts, an der gleichen Buslinie, die zur Feidauerkurve führte.
Gublers Haus lag in einer Eisenbahnersiedlung aus den vierziger Jahren. Sie bestand aus vier Achterreihen zweistöckiger Einfamilienhäuser. Jedes besaß einen kleinen Vor und einen großen Hintergarten. Früher wurde in den Gärten Gemüse angepflanzt. Heute waren es meistens Rasenflächen mit Gartenlauben, Hollywood-Schaukeln und Fertigpools.
Gublers bewohnten ein Eckhaus. Eines der wenigen, in dessen Garten noch Gemüse wuchs. Fabio öffnete das niedrige Gartentor, ging zwischen den Rosenbeeten über den Kiesweg zum Haus und klingelte.
Neben der Haustür stand ein kleines Fenster offen. Es mußte zur Küche gehören. Fabio roch, daß etwas im Backofen war. Er tippte auf Früchtewähe.
Durch das schmale Fenster in der Haustür sah er jetzt eine Frau. Sie rieb sich die Hände an der Schürze trocken und öffnete. »Guten Abend, Herr Rossi«, sagte sie und gab ihm die Hand. Sie hatte kurze graue Haare, ein schmales, braungebranntes Gesicht und blaue Augen. »Mein Mann ist im Garten, Sie kennen ja den Weg.« Fabio hatte Gubler gegenüber nichts von seinem Gedächtnisverlust erwähnt.
Der Korridor hatte einen gebohnerten Linoleumboden, die Wände waren weiß gestrichen, ein paar künstlerische Schwarzweißfotos mit nordafrikanischen Motiven hingen links und rechts in einer Reihe, nichts anderes, kein Schnickschnack. Am Ende des Korridors führte eine Tür zu einer kleinen gedeckten Terrasse, die mit Reben bewachsen war. Dahinter begann der Garten.
Von Hans Gubler war nichts zu sehen. Erst als Fabio auf dem schmalen Weg ein Stück weiterging, entdeckte er ihn. Er lag auf dem Bauch zwischen den Salatköpfen. »Herr Gubler?« sagte Fabio vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken.
Gubler schaute auf. »Was, schon sechs?« Er rappelte sich hoch, klopfte die Erde von den Hosen und kam auf Fabio zu. Ein mittelgroßer, schlanker, weißhaariger Mann. Auch er braungebrannt von der Gartenarbeit.
»Setzen Sie sich schon an den Tisch.« Er ging zu einem Wasserhahn an der Hauswand und wusch sich die Hände. Das Wasser lief in eine Spritzkanne, die darunter stand. Er rieb die Hände an den Hosen ab und lauschte, wie das Wasserrauschen immer höher klang. Als die Kanne voll war, drehte er den Hahn zu und setzte sich zu Fabio an den Tisch.
»Ich bin dabei, eine automatische Bewässerung zu installieren. Braucht weniger Wasser, aber mehr Nerven. - Ich habe Ihren Artikel gelesen.«
»Und?«
»Ich bin jetzt pensioniert, da hat man das Recht, ehrlich zu sein: Er hat mir nicht gefallen.«
So genau hatte es Fabio nicht wissen wollen. Trotzdem fragte er: »Weshalb nicht?«
»Wie soll ich sagen?« Es war keine rhetorische Frage. Gubler überlegte sich tatsächlich, wie er es sagen sollte. »Es war einer dieser Artikel, in denen der Autor eine These aufstellt und nur Fakten und Meinungen zuläßt, die diese untermauern. ›Die Wut des Lokführers auf den Selbstmörder‹ das klang einfach zu gut, als daß Sie sich das vom wahren Sachverhalt hätten widerlegen lassen.«
»So kam Ihnen das vor?«
»So war es. Denn es ist natürlich Unsinn. Keiner von uns hat eine Wut auf die armen Teufel, die keinen anderen Ausweg sehen. Das weiß fast jeder, der es erlebt hat. Man kann es sich nicht vorstellen, wie das ist, hilflos im Führerstand zu sitzen und auf einen Menschen zuzurasen. Ihn anzusehen, den Aufprall zu spüren. Das sind Schwätzer, die behaupten, daß man eine Wut auf sie hat. Das reden die sich ein, weil sie glauben,
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