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Ein perfekter Freund

Ein perfekter Freund

Titel: Ein perfekter Freund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Alles, was er sah, waren schwarze Zöpfchen. Er öffnete.
    Es war die junge Frau von gestern nacht. »T'as du café?« fragte sie.
    Sie trug einen Sarong, der über den Brüsten zusammengeknotet war, und hatte eine große Tasse in der Hand.
    »J'entre?« fragte sie.
    Fabio ließ sie herein. Sie gab ihm die Hand. »Samantha.«
    »Fabio. Tut mir leid, ich habe nichts im Haus. Gerade wollte ich das Nötigste einkaufen gehen.«
    »Auch Kaffee?«
    »Ich trinke nur Espresso.«
    »Das ist auch gut.«
    »Ich habe keine Espressomaschine.«
    »Wie machst du dann deinen Espresso?« Sie hatte eine tiefe Stimme und sprach ein singendes, gutturales Französisch.
    »Eben, kann keinen machen.«
    »Dann kannst du auch keinen trinken.«
    »Genau.«
    Sie schaute ihn prüfend an. Plötzlich lachte sie los. Lachte die ganze Tonleiter rauf und wieder runter. Fabio stand daneben und lächelte höflich.
    »Ich trinke nur Espresso«, sagte sie mit verstellter Stimme.
    »Aber ich habe keine Espressomaschine.« Wieder lachte sie ein paar Oktaven. Dann hörte sie abrupt auf. »Kannst du mir Kaffee mitbringen?«
    »Klar. Welche Sorte?«
    »Irgendeine, die keine Maschine braucht.«
    »Sofortkaffee?«
    Sie schaute ihn ernst an. »C'est ça. Sofort. Hast du etwas zum Schreiben?«
    Fabio ging zum Schreibtisch und gab ihr einen Kugelschreiber und ein Blatt Papier. »Reicht das?«
    Sie lächelte. »Ich hoffe.«
    Samantha setzte sich an seinen Schreibtisch und begann zu schreiben. Sie hatte überlange, glitzernde Fingernägel, die ihr beim Schreiben im Weg waren. Als sie fertig war, überreichte sie ihm eine Einkaufsliste mit elf Punkten. »Nur, wenn es dir nichts ausmacht.«
    Es machte ihm nichts aus.
    »Wenn du zurückkommst, klopfst du an meine Tür. Dreimal schnell, dreimal langsam.« Sie machte es vor. »Dann weiß ich, daß du es bist.«
    Als Fabio mit den Einkäufen zurückkam, klopfte er an ihre Tür. Dreimal schnell, dreimal langsam. »Stell es einfach vor die Tür, Chéri!« hörte er sie rufen.
    Er stellte die zwei Einkaufstaschen auf die Türschwelle und ging nochmals einkaufen. Diesmal für sich.
    Als er wieder zurückkam, waren die Einkäufe vor Samanthas Apartment verschwunden.

15
    Die Feidauerkurve verdankte ihre Beliebtheit bei Selbstmördern verschiedenen Umständen. Einer davon war ihre verkehrstechnische Erschließung. Sie war bequem mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreic hen, fünfzehn Gehminuten von der nächsten Bahnstation und etwa gleich weit von der letzten Bushaltestelle. An beiden Orten konnte man durch eine Unterführung auf die andere Seite der Bahnlinie gelangen und von dort durch ein kleines Wäldchen zur Kurve.
    Fabio war schon einmal hier gewesen, als er für die Lokführer-Reportage recherchierte. An einem kühlen, feuchten Tag, an dem es nach nassem Waldboden und dem frisch geschlagenen Holz roch, das die Waldarbeiter am Forstweg aufgeschichtet hatten.
    Ein bißchen vo n der Kühle von damals hätte er sich heute gewünscht. Es war bald fünf. Die Sonne hatte die letzten Stunden ungehindert auf das staubige Natursträßchen gebrannt. Das dürre Gras der Böschung war ein Stück weit abgebrannt.
    Auf halber Strecke stieg der Weg sanft an, und etwa fünfzig Meter weiter erreichte er die Höhe des Damms. Nur noch das Schotterbett und die Schienen ragten darüber hinaus.
    Die kleine Plattform lag im Schatten einiger Buchen. Sie war von dichtem Unterholz umgeben. Zwei verwitterte Holzstöße standen an ihrem Rand, wie alte Bauernschränke.
    Fabio befand sich an der Stelle, wo die Lebensmüden noch einmal in sich gingen, bevor sie den Weg und die schmale Bewachsung überquerten und sich auf die Schienen stellten.
    Er näherte sich dem Rand des Schotterbetts.
    Die Feidauerkurve war ein weitgezogener Bogen. So sanft war die Biegung und so gut ausgebaut die Trasse, daß die Schnellzüge mit hundertfünfundzwanzig durch sie hindurchziehen konnten. Die Lokführer besaßen nur gut zweihundertfünfzig Meter freie Sicht, bevor die Gleise hinter dem Wald verschwanden.
    Konnte man jemanden zwingen, sich hierhin zu stellen und nicht von der Stelle zu rühren in den paar verbleibenden Sekunden, bis die sechshundert Tonnen Eisen auf ihn auftrafen?
    Das Unterholz bot viele Verstecke, in die sich jemand ducken konnte, nachdem er sein Opfer auf die Schienen geworfen hatte. Oder von denen aus er es für Dritte unsichtbar in Schach halten könnte.
    Aber auch wenn es für den Lokführer zu spät zum Bremsen war, blieb ihm genug Zeit,

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