Ein perfektes Leben
dran war. Ein Scheißwinter, dachte er und betrachtete die Calle Paseo, die der Baumbestand verdunkelte und der Seewind von Papier und Laub säuberte. Niemand wagte es, sich auf die Bänke entlang des Mittelstreifens der Allee zu setzen, die für den Teniente die schönste Allee Havannas war. Im Augenblick gehörte sie ganz allein einem abgehärteten Jogger, der in einen Regenmantel gehüllt seine tägliche Strecke lief. Was für eine Disziplin! Er selbst hätte sich an einem Tag wie diesem, das wusste er, mit einem Buch ins Bett gelegt und wäre nach der dritten Seite eingenickt. An einem Tag wie diesem, auch das wusste er, machten Regen und Kälte die Leute, die nicht rauskonnten, nervös. Die sanftmütigsten Ehefrauen sahen durch das Macho-Gehabe ihres Mannes die Ehre der Frauen verletzt und beantworteten bedenkenlos die Annäherungsversuche mit einem gezielten Schlag auf den Kopf, einfach so, zwischen Steak und Reis. Zum Glück wurde nach der Neujahrspause heute wieder Baseball gespielt. Möglicherweise, dachte er, würde die Partie wegen Regen abgesagt. Seine Mannschaft, die Industriales, Grund für Ärger und schlaflose Nächte, mussten heute Abend im Estadio Latinoamericano gegen die Vegueros um den Einzug in die Play-off-Runde spielen, für die sich die Habanas bereits qualifiziert hatten. Er wäre gerne ins Stadion gegangen. Er brauchte diese Art Gruppentherapie, die der Freiheit so nahe kam, weil man alles herausschreien konnte. Man konnte auf die Mutter des Schiedsrichters scheißen oder den Manager der eigenen Mannschaft als Arschloch beschimpfen, und hinterher verließ man das Stadion euphorisch wegen eines Sieges oder traurig über eine Niederlage, aber auf jeden Fall heiser, energiegeladen und entspannt. In letzter Zeit hatte sich El Conde zu einem großen Zweifler gewandelt. Er versuchte sogar, sich kein Baseballspiel mehr anzuschauen, denn seine Industriales spielten von Mal zu Mal schlechter, und auch das Glück hatte sie verlassen. Außer Vargas und Javier Méndez spielten alle anderen zweitklassig, zu weich in den Knien, um im Ernst daran denken zu können, die Finalrunde zu erreichen oder womöglich zu gewinnen. Als sie auf den Malecón fuhren und die salzige Gischt, die über die Kaimauer spritzte, sich mit dem Nieselregen vermischte, hatte er Zaida und Zoila vergessen. Manolo verfluchte Gott und die Welt, weil er daran dachte, dass er den Wagen heute Abend noch waschen musste, bevor er ihn in die Garage stellen konnte.
»Wie lange warst du nicht mehr im Stadion, Manolo?«
»Was für ein verdammtes Stadion, Conde? Wie kommst du jetzt darauf? Guck dir bloß mal den Wagen an … Bin ich blöd? Ich hätte die Linea nehmen sollen«, schimpfte der Sargento, als sie in die G Richtung Quinta einbogen. Sie hielten vor einem Wohnblock und stiegen aus.
»Im Stadion würdest du von deinen Wutanfällen geheilt, Manolo.«
Zaida Lima Ramos wohnte im sechsten Stock, Wohnung 6D, wie sich der Teniente Mario Conde anhand seiner Notizen vergewisserte. Von der Eingangshalle aus beobachtete er, wie Manolo bei dem Versuch, die Radioantenne abzumontieren, nass wurde. Die Erklärung, die der Sargento für seine Aktion gab, ließ den Teniente schmunzeln: »Präventive Verbrechensbekämpfung, Mario! Letzten Monat hat man mir eine geklaut, vor meiner Wohnung … «
Sie gingen zum Aufzug, wo sie ein Schild mit der Aufschrift AUSSER BETRIEB erwartete.
»Fängt gut an, was?«, bemerkte Mario Conde und wandte sich zum Treppenaufgang, der von kümmerlichen Birnen nur spärlich beleuchtet wurde. Beim Treppensteigen geriet er ins Keuchen, atmete durch den Mund. Er spürte, wie sich durch die Anstrengung sein Herzschlag beschleunigte und seine Beinmuskeln taub wurden. Einen Moment lang dachte er, dass es der Jogger auf der Calle Paseo richtig machte. Im fünften Stock lehnte er sich gegen das Treppengeländer, sah Manolo an und dann nach oben auf das letzte Teilstück, das bis zum sechsten Stock noch zu bewältigen war. Und mit einer Handbewegung flehte er, warte, warte, ich muss erst wieder zu Atem kommen, niemand kann Respekt haben vor einem Polizeibeamten, der mit heraushängender Zunge und Tränen in den Augenwinkeln vor der Tür steht und um ein Glas Wasser bittet wie um eine milde Gabe. Er wollte sich hinsetzen und griff automatisch in seine Jackentasche. Doch dann beschloss er, vernünftig zu sein, steckte sich die Zigarette zwischen die trockenen Lippen, ohne sie anzuzünden, und nahm die letzten Meter des endlosen
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