Ein Pyrenäenbuch
neun Uhr. Oben lag die
helle Sonne auf den begrünten Höhen — hier unten war es schattig und kühl. Der
Weg schlängelte sich an dem Gebirgsbach entlang, dann hörte jede Fußspur auf.
Was nun? Nun mußte man klettern.
Ich kletterte eine halbe
Stunde. Eine halbe Stunde ist lang, mitunter. Dann kam eine rostige Eisentür,
die stand offen, von hier ab begann also die bezahlte Natur. Die Schlucht wurde
immer schluchtiger, die Felsen immer felsiger, der Gebirgsbach immer wirbliger.
Nun standen die Wände etwa zweihundert Meter hoch und in der Mitte ich. Wo war
der Weg?
Was als solcher auf der Karte
verzeichnet stand, war eine Art Untertassenrand, links der nackte Felsen,
rechts der Brodelbach, manchmal umgekehrt. Beim Dahinwandeln hielt ich mich an
dem nassen Stein fest, und weil ich ganz allein war, sprach ich mit mir und
auch mit dem Stein, ich redete ihm gut zu, mich nicht ins Wasser zu stoßen, ich
würde schon wieder herauskommen, so ein Affe! Er stieß auch nicht — aber
manchmal setzte ich den Fuß auf eine Kante, das Sohlenleder glitt ein bißchen,
und meine Eingeweide schoben sich ein ganz kleines Stückchen nach oben. Derart
ging ich etwa zwei Kilometer, obgleich gehen nicht das richtige Wort dafür ist.
So ein Geschöpf aus dem Flachland wie du! Wie soll ich dir das beschreiben, auf
welche Weise wir uns hier fortzubewegen hatten, meine Beine und ich...? Hast du
einmal einen Mann seiltanzen sehen?
Alle fünfzig Meter hatten sie
ein paar Bohlen über die ‹gave› gelegt, mit kümmerlichen und schwankenden
Andeutungen einer Art Geländer. Ich schob mich hinüber, drei Meter unter mir
gähnte der Abgrund. Manchmal wippten die Brücken so sonderbar, das hatte ich
nicht gern, links glänzte der Wasserfall und rechts die Grotte, in die
kletterte ich hinein, da standen weiße Sandsteinmänner und sahen mich an. Wie
still war es hier! Draußen warf ich meinen Reiseführer fast absichtlich in den
Bach — ich brauchte ihn nicht mehr.
Und nun hörte jeder Weg
überhaupt auf. Ich hatte bis zur spanischen Grenze gehen wollen, heraus aus der
Schlucht, und auf einem andern Weg wieder nach Tardets zurück, in das
Großvaterhotel. Aber da war kein Weg. Keiner.
Ich stand da, mit der kleinen
übriggebliebenen Karte, wie ein großer Heerführer: sehr wichtig, aber etwas
ratlos. Und da tat ich etwas, weswegen ich dir diesen Brief schreibe.
Ich kletterte die Wände hinauf.
Ich dachte so:
Oben wird sich schon ein Ausweg
finden, ich sehe besser, wo ich bin — auf! hinauf! Der grasige Abhang hatte
eine Steigung von 91 Grad.
Erst ging es ja ganz gut; da
standen Bäume, an denen man sich hinaufziehen konnte — aber das hörte
streckenweise auf, ich trat fest auf den krümligen Boden, er rutschte fest weg,
und ich hielt mich an der Luft. Das kann man nämlich. Vor wem spielt man
eigentlich so ein Theater, wenn man allein ist? Immer wenn ich haarscharf am
Hinunterrollen war, machte ich ein energisches und männliches Gesicht: Nur
ruhig — nur ruhig — es wird ja gehen! Aber dann ließ das plötzlich nach, und
ich sah aus, wie ich in Wirklichkeit aussah: rot wie ein Puter, furchtbar
prustend und entsetzlich wütend. Ich hatte noch keinen entdeckt, der an der
Sache schuld war, aber ich würde schon einen Dolchstoßer finden.
Der Schluchtenbesitzer wird
schöne Augen machen, wenn er wiederkommt. Ich habe ihm die ganze Geschichte
rettungslos ruiniert. Man mußte kreuz und quer klettern, und du mit deinen
alten Wasserrohren kannst das nicht nachfühlen, du Plattlandkerl du! Einmal
stand ich still und dachte: wenn jetzt Jakopp da wäre, würde er sofort den
guten Wasserbach unten abfangen und eine Toilettenspülung aus ihm machen. Ich
dachte mir es ganz genau aus, wie du hier anfangen würdest zu graben, und wie
alle Bauern, anstatt wie jetzt nach hinten in die Tannen zu greifen, wenn sie sich
im Walde wieder aufrichten, an einer Schnur ziehen könnten, und wozu das
eigentlich gut sein sollte, zum Himmeldonnerwetter! Laß du deine Kanalisation
laufen und uns Basken hier in Ruhe. Und dann stieg ich weiter.
Nach fünfundvierzig Minuten war
ich so weit. Es war halb elf Uhr vormittags.
Jetzt saßest du in Hamburg und
blättertest in deinen Akten, schön ausgeruht und in kühler Wäsche, denn sauber
bist du. An der Wand hängt eine bunte Karte: Hamburg — mit allen Straßen und
Wasserentnahmestellen, damit du im Bedarfsfälle gleich zum Neuen Wall laufen
kannst, Nr. 17, zur Witwe Brenkemeyer: «Wer läßt denn hier so lange
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