Ein Pyrenäenbuch
Schneiderinnen, an Hebammen... Jede Nation hat ihre Eigenart; jemand
beklagt sich über die ‹Engländer, die alles für sich haben wollen, die besten
Plätze, die Spitze bei den Prozessionen› — und die dann nach ein paar Tagen die
ganze Geschichte satt bekommen und Ausflüge in die Umgebung machen. Polen,
Italiener, Spanier, Belgier, Holländer, Franzosen vieler Provinzen... es ist
alles da. Und alle aus derselben Schicht.
Es riecht nach Muff, nach
unaufgeräumten Schlafzimmern, nach jenem Typus, der in Europa nicht leben und
nicht sterben kann, nach kleinem Mittelstand, der nicht weiß, daß er’s ist.
Er bestimmt die Atmosphäre in
Lourdes, er gibt das Tempo an, auf ihn sind Vergnügungen, Hotels, Romantik,
Prozessionen zugeschnitten. Es ist die Stadt der kleinen Leute.
Aber die Heilung —?
4. Der Sardellenkopf
«Man
kann auch zum Kopf einer
Sardelle
beten, es kommt nur auf
den
Glauben an.»
Japanisches
Sprichwort
Durch eine Wallfahrt nach
Lourdes kann man organische Krankheiten heilen. Das ist der Fundamentalsatz der
Gläubigen.
Erklärt wird er nicht. Bewiesen
werden soll er durch das Bureau des Constatations Medicales.
Dieses Bureau besteht aus einem
Chefarzt sowie mehreren andern Ärzten, die in Kommissionssitzungen die
Heilungen prüfen und späterhin beglaubigen. Fremde Ärzte werden mit der größten
Bereitwilligkeit zugelassen; sie dürfen an allen Sitzungen teilnehmen und
bekommen Einsicht in alle Akten.
Niemand wird gezwungen, sich
dem Bureau vorzustellen — wer sich geheilt glaubt, stellt sich selbst vor.
Das Bureau des Constatations
ist vorsichtig, die Presse ist es minder. Die klerikalen Blätter, deren
Verkäufer auf den Straßen von Lourdes schreien wie die Wilden, sind mit einem
Wunder schnell bei der Hand. Die ‹Annales de Lourdes› und ‹La Revue
de Lourdes› sind ernster zu nehmen, doch strotzen beide von pseudowissenschaftlichem
Emst und zelotischem Eifer gegen die, so nicht glauben.
Sämtliche persönlichen Angriffe
gegen die Mitglieder des Bureaus halte ich für falsch. Der törichte Vorwurf,
sie seien bestochen, wird ja heutzutage kaum noch erhoben. Ganz abgesehen davon,
daß die Ärzte, die dort tätig sind, den Eindruck rechtlicher und anständiger
Männer machen und es sicherlich auch sind: bestechen...! Die katholische Kirche
ist viel zu klug dazu. Nur der Unbegabte stiehlt, der Kluge macht
Geldgeschäfte.
Es darf auch nicht gesagt
werden, daß diese Ärzte etwa zu gutgläubig wären — die sehr kluge Praxis des
Bureaus ist vielmehr Skepsis. Mächtige Waffe der katholischen Kirche gegen die
Zweifler: dieses Bureau ist so streng in seiner Nachprüfung, daß die Kranken
ihm den Spitznamen ‹Bureau des Contestations› gegeben haben: Bestreitungsbüro.
Und hat nicht eine Frau nach langem ärztlichem Examen aufgeschrien: «Dieser
Mensch, der mir da gegenübersitzt, ist sicherlich ein Freidenker — er glaubt
nichts!» Der Mann war der verstorbene Chefarzt, Herr Boissarie, ein frommer
Katholik.
«Lourdes... wer glaubt denn das
schon —!» Die Sache ist wohl nicht damit abgetan, daß man durch die Nase bläst,
ein in Norddeutschland sehr beliebtes Argument. «Ich kenne keinen Menschen, der
noch solches Zeug...» Du kennst keinen? Aber du vergißt, daß es nicht die
andern sind, die die Ausnahme bilden, sondern du, du selbst, Freigeist oder
Faulgeist oder wirklich Überlegner — du bist es, der auf einer großen Insel
sitzt. Nach Lourdes sind gewallfahrt:
1873 140 000
1883 213 000
1908 401 000
nach dem Kriege jährlich etwa
500 000—800 000 Menschen.
Das sind die Zahlen der
offiziellen Wallfahrer; Einzelpilger, Touristen, Neugierige sind nicht
einbegriffen. Bisher mögen etwa zwölf Millionen Pilger dort gewesen sein. Das
ist ein Welterfolg.
Kommen nun in Lourdes
übernatürliche Heilungen vor —?
Ich behaupte:
Das Bureau des Constatations
ist in der Mehrzahl der Fälle überhaupt nicht in der Lage, eine Heilung
festzustellen.
Die Konstatierung einer Heilung
ist eine Vergleichung: die des Zustandes vor dem Wunder mit dem Zustand nach
dem Wunder.
Nun: das Bureau kennt den
Zustand vor dem Wunder gar nicht.
Da es undurchführbar wäre, die
Hunderttausende von Kranken vor dem Bad in den ‹piscines› zu untersuchen, so
stellt sich der angeblich Geheilte, den das Bureau jetzt zum ersten Mal zu
sehen bekommt, mit einem Attest vor. Der Geheilte kommt also mit dem Zeugnis
fremder Ärzte, die besagen, was ihm gefehlt hat. Nun
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