Ein Pyrenäenbuch
nervöse
Erkrankung handeln. Unmittelbarkeit der Heilung.
Der Ausschluß der
Hysterischen... das ist nicht immer so gewesen. Denn es ist ja unzweifelhaft,
daß der größte Teil der Wunderheilungen im Mittelalter Neurastheniker,
Hysteriker, Hysterische, Nervöse betroffen hat — gaben die sich für geheilt
aus, so sah man sie als begnadet, ausersehen und durch Gott und die Jungfrau
geheilt an. Seit die Wissenschaft dieses Feld besetzt hat, hat es die Kirche
geräumt. Sehr früh schon — etwa um 1734 — hat der Kardinal Prosperö Lambertini,
der spätere Papst Benedikt XIV., davor gewarnt, Nervöse in die
Wundergeschichten einzubeziehen. Was aber wäre, wenn die Psychologie und die
Psychiatrie den nervösen Krankheiten nicht so nahegerückt wäre? Die Kirche
nähme diese Kranken noch heute für sich in Anspruch.
Vorläufig schwerer angreifbar
steht sie auf dem kleinem Feld, das ihr geblieben ist: auf der wunderbaren
Heilung organisch Kranker. Da läßt sie sich nichts abhandeln. Sie verlangt nur
die Unmittelbarkeit der Heilung.
Von einer Unmittelbarkeit kann
nun zunächst in keinem Fall die Rede sein. Bechterew sagt einmal, als er in
seiner ‹Bedeutung der Suggestion für das soziale Leben› von
Wunderheilungen spricht: «Der Boden für zukünftige Heilungen beginnt sich
bereits in dem Augenblick vorzubereiten, wo der Kranke zum erstenmal das
Gerücht von der Wunderkraft des Heiligtums vernimmt und in seiner Seele der erste
Hoffnungsfunke entfacht ist.» Reißt also ein aufgegebener und scheinbar unheilbarer
Kranker seine letzte Willensreserve zusammen und beschließt, nach Lourdes zu
gehen, so beginnt der seelische Prozeß in diesem Augenblick: wochen-,
vielleicht monatelang vor der Reise. Das später ausgestellte Attest besagt
wenig.
Nun tagt die Kommission in
Lourdes. Aber was sind denn das für Ärzte —? Ich habe mehr als hundert Befunde
und Bescheinigungen dieser Leute gelesen, und ich muß sagen, daß mir so etwas
noch niemals unter die Finger gekommen ist. Sie haben eine Heilung unter den
Augen, sie sehen sie, sie können die neu funktionierenden Organe befühlen,
radiographieren — und sie setzen an den Schluß aller ihrer Zeugnisse: «Solche
Heilungen kommen in der Medizin nicht vor — sie haben also übernatürlichen,
keinen medizinischen Charakter.»
Das unglückselige Wort Richets
von der Unwandelbarkeit der physikalisch-chemischen Gesetze, so recht ein
Zeugnis von Kurzatmigkeit des Verstandes, flachstem Glauben an die
Unfehlbarkeit der Wissenschaft und leiser Überheblichkeit, dieses noch dazu aus
seinem Zusammenhang gerissene Wort hat denen in Lourdes grade noch gefehlt.
Und hierin gleicht Richet zu
seinem Nachteil gar nicht den Theologen, und Rousseau hat allen Orthodoxen der
Ratio dies ins Stammbuch geschrieben: «Tout au contraire des theologiens, les
medicins et les philosophes n’admettent pour vrai que ce qu’ils peuvent
expliquer, et font de leur intelligence la mesure des possibles.»
«Dieses Rückenmarksleiden wird
niemals von uns geheilt — also ist es nicht heilbar. Ein Wunder! Ein Wunder!»
Ein Wunder von Ärzten.
Aber dann macht doch die Augen
auf, wenn ihr dergleichen seht! Ihr habt solche Heilungen noch nie beobachtet?
Dann steckt die Nase in die Bücher, lernt etwas und denkt nach, warum dennoch
geheilt worden ist, auf welchem Wege, durch welche Einwirkungen... Zu
grobfingrig, um diese Gewebe aufzudröseln, transponieren sie Kräfte, die sie
nicht kennen, nach außen, und die Mutter Maria steht in aller Pracht vor ihnen.
«Kräfte, die sie nicht
kennen...» Ach, dieses Wort darf man in Lourdes gar nicht aussprechen, ohne daß
man von einem Hohngeschrei überfallen wird. Es gibt keine Kräfte, die wir nicht
kennen! Das wäre ja noch schöner! Schwatzt nicht von unbekannten Kräften! Eben
die sind Gott.
Nun habens ihnen die Gegner
nicht so schwer gemacht.
Wundt: «Es hat keinen Sinn,
alle seelischen Erscheinungen, von der normalen Assoziation und Assimilation an
bis zu mehr oder minder phantastischen Illusionen und Sinnestäuschungen, unter
dem Begriff der Suggestion zu vereinigen und diesen so zu einem
Allerweltsbegriff zu machen, der, weil er alles bedeuten soll, in Wahrheit
nichts mehr bedeutet. Das Wort ‹Suggestion› erklärt ja überhaupt nichts. Es
gewinnt erst einen psychologischen Wert, wenn man die elernentaren psychischen
Prozesse aufzeigt, deren besondere Verbindung in diesem Ort zusammengefaßt
wird.» Und weil das die Gegner so oft schuldig bleiben
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