Ein Pyrenäenbuch
untersucht das Bureau den
Kranken nach der Heilung, es kennt also nur die eine Seite des Waagebalkens.
Denn wer sind diese
attestierenden Ärzte? Professoren? Kleine Landdoktoren? Welchen
wissenschaftlichen Wert haben ihre Gutachten? Wann sind diese Atteste
ausgestellt?
Diese Atteste sind wochenlang
vor der Heilung ausgestellt, in den seltensten Fällen eine Woche vorher. Aber
jeder Kurpfuscher sieht seine Kranken vor und nach seinen Praktiken und ist
wenigstens in den Zeitangaben gedeckt, wenn er sich bescheinigen läßt: «Nach
Ihrer Behandlung fühle ich midi bedeutend besser.» Und die behandelnden Ärzte
zu Hause sehen den Kranken erst nach Wochen wieder, frühestens nach einer — sie
vermögen also wenig über eine exakte und sofortige Wirkung der Wallfahrt
auszusagen.
Die Statistik ist so minutiös:
sorgfältig gibt das Bureau des Constatations an, wieviel fremde und wieviel
französische Ärzte dort gewesen sind... Aber das besagt gar nichts, denn sie
können ja nichts sehen. Man öffnet ihnen alle Türen — aber es gibt wenig zu
beobachten. Was sie untersuchen, sind kranke Männer und Frauen in einem
bestimmten Zustand — was vorher war, wissen sie aus eigenem Augenschein nicht.
Die populäre Literatur wimmelt
von Fotografien der Geheilten, eine Beweisführung, die etwa an die
plattdeutschen Märchen denken läßt, in denen jemand vom Gnomenfürsten träumt,
der da auf dem morschen Ast ritt und dann herunterpurzelte. «Und zum Beweis
dessen, daß die Geschichte wahr ist — hier ist der Ast.»
Natürlich kämpfen die
Lourdes-Leute wie die Mamelucken für ihre Sache. Und das ist nun ausnahmsweise
kein Wunder. «Ce que l’amoureux fait pour sa maitresse», sagt Sighele einmal,
«l’artiste le fait pour son art, le savant pour sa Science, le sectaire pour la
secte.» Und sie
passen auf —! Ein kleiner Irrtum des Zweifelnden, ein Versehen des Kritikers im
winzigsten Nebenumstand, und es erfolgt ein allgemeines Schütteln des Kopfes.
Da seht ihrs! Der Mann ist nicht exakt, also nicht glaubwürdig, also haben wir
recht. So wird hier gekämpft.
Worum wird gekämpft —?
Die offiziellen Zahlen der
Heilungen sind verhältnismäßig klein.
1858
27
}
gänzlich unkontrolliert. Das Bureau besteht erst seit 1884
1864
3
1874
31
1883
145
1893
101
1903
133
Die Zahl für 1924 wurde mit 22
angegeben. Im Jahre 1925 wird sie aller Voraussicht nach noch geringer sein.
Unter den Propagandaberichten
finden sich ein paar besonders schöne Fälle.
Da ist Herr Gargam, der im
Dezember 1899 bei einem Eisenbahnzusammenstoß böse verletzt wurde:
Fleischwunden, Schlüsselbeinbruch, Lähmung und Muskelsteife des gesamten
Unterkörpers vom Gürtel an. Man hat große Schwierigkeiten, ihn überhaupt zu
ernähren. Die Schadensersatzklage gegen die Eisenbahngesellschaft Paris-Orléans
führt zum obsiegenden Urteil: 3000 Francs jährliche Rente, die später auf 6000
erhöht wurde, sowie eine einmalige Auszahlung von 6000 Francs. Am 12. August
1901 verzichtet die Gesellschaft auf weitere Rechtsmittel und erklärt sich
bereit, zu zahlen. Acht Tage später, am 20. August, ist Herr Gargam in Lourdes
unter den Geheilten.
Da ist Frau Rouchel aus Metz,
einer der bösesten Fälle von Lourdes. Die alte Frau litt an einem Lupus; ihr
Gesicht war entsetzlich entstellt, es bestand aus einer einzigen Wunde. Sie kam
am 4. September 1903 nach Lourdes; eine grauenhafte Qual, sie anzusehen, eine
Plage für die Nachbarn. Die Wunde roch stark und eiterte. Sie wußte, daß sie
allen lästig fiel und wollte nicht im Menschengetümmel bleiben, das stets vor
ihr zurückwich; sie flüchtete sich in eine kleine Seitenkapelle der Kirche. Als
das heilige Sakrament an ihr vorbeikam, fiel ihr Verband, mit Blut und Eiter
getränkt, auf ihr Gebetbuch. Als sie ins Hospital zurückkam, war sie geheilt.
Mirakel —!
Nachschrift: Frau Rouchel starb
im Krankenhaus zu Bondecours mit völlig zerfressenem Gesicht. Und das war kein
Lupus. Es war das tertiäre Stadium der Syphilis, von der ihr Arzt in dem Attest
aus Gefälligkeit nichts gesagt hatte. Sie hatte beide Krankheiten. Die
Geschichte machte in Metz einen Höllenspektakel, der Arzt wurde von seinen
Kollegen fallen gelassen, die alle sehr wohl wußten, daß solche Erscheinungen
des tertiären Stadiums oft ebenso rasch verschwinden, wie sie gekommen sind.
Und so gibt es noch viele
schöne Fälle.
Die Kirche verlangt nun von
einem Wunder, damit sie es als Wunder ansähe:
Es darf sich um keine
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