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Ein Pyrenäenbuch

Ein Pyrenäenbuch

Titel: Ein Pyrenäenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Tucholsky
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bespien! Wer erinnert sich nicht
noch des Unflats, der bei den Frommen aufdampfte, als er tödlich verunglückte!
Sie haben ihm sogar vorgeworfen, er habe in ‹Lourdes› die Geistlichen
beschimpft, wofür es keine Stelle als Beleg gibt... Nein, es sitzt anderswo.
Das Wort I ‹Suggestion› reicht in der Tat nicht aus.
    Die Literatur über das
Individuum in der Masse ist klein. Ganzll zu schweigen von
Experimentalpsychologen, deren lächerlichste Vertreter an Apparaten
herumhantieren und Versuchsreihen aufstellen, die so lang sind wie ihr Instinkt
kurz — es ist auch grundfalsch, die Natur der Massenerscheinungen am Individuum
zu studieren und in verkehrter Gründlichkeit bei ihm anzufangen. Das! Wesen des
Meeres ist aus dem Tropfen nicht ersichtlich. Lourdes ist ein Massenphänomen
und nichts als das.
    «In eine Menge zu gehen, ist,
wie in ein Choleradorf gehen», hat ein englischer Soziologe gesagt. Der
Gedanke, daß eine Versammlungsrede in kleinem Kreise leicht komisch wirkt, ist
nicht neu, aber viel zu wenig ausgearbeitet. Denn hier sitzt der Kern. Was tut
nun Lourdes mit den Massen —?
    Es versetzt zunächst die fernen
Kranken durch seinen Ruf, der künstlich genährt und gesteigert wird, in sanften
Schwindel. Die Wallfahrten sind ja nicht spontan, sondern sorgfältig
organisiert, die Beteiligung an ihnen ist häufig unter mehr oder minder starker
Beeinflussung erfolgt. Die Millionen strömen zusammen, nicht. nur von
individuellem Willensimpuls getrieben, die Reisen rühren nicht aus lauter
voneinander unabhängigen Einzelentschlüssen her, sondern sie sind kollektiv
zustande gekommen. Die Disposition für die große Massensuggestion, die da
einsetzt, ist also denkbar günstig. Kommt die manchmal ungenügende ärztliche
Pflege hinzu, das Mißlingen von ärztlichen Kuren, die scheinbare oder wirkliche
Unmöglichkeit, geheilt zu werden — so wird sich der Kranke tun so eher dem
neuen Hoffnungsstern hingeben.
    Nun reist er nach Lourdes.
    In dem Augenblick, wo der
Patient den Zug betritt, kommt er aus der Masse nicht mehr heraus. Er ist nie
mehr allein. In den Hospitälern liegen sie zu zwanzig, dreißig. Er ist fast
ständig unter Tausenden, meist unter Hunderten, die Leidensgefährten sprechen
miteinander. Die Ärzte unter meinen Lesern kennen die ‹Wartezimmer-Gespräche›
in den Polikliniken, wo Frau Knautschke Fräulein Lindemüller von ihrem großen
Ding am Knie erzählt, und was der Doktor gesagt hat, und was man da tun müsse,
und was man nicht tun dürfe... Jeder gibt seinen Senf dazu, Schauerge- ;
schichten steigen zur Decke, und alle sind schwere Fälle, und alle wollen
bemitleidet und sehr ernst genommen werden. An guten Ratschlägen fehlts nicht. Das,
genau das, ist die Luft von Lourdes. Ich habe die Unterhaltungen alter Frauen
auf dem großen Platz während der Prozession mitangehört: kein Komma war anders
als in der berliner Charité vor der allgemeinen Sprechstunde. «Un denn, Frau
Millem, ick hab mein Mann imma heiße Linsen hinten ruffjepackt — das hatn ja
sehr jut jetan...» Auf die Art.
    Gruppen sind ein Leib.
Aber das ist überall so. Ein Soldat wurde bei einer Besichtigung gefragt: «Sie
stehen im Feuergefecht mit dem Gegner, der energisch vordringt. Ein Schütze
neben Ihnen ruft, daß man sich nicht mehr halten könne, man müsse zurückgehen.
Was tun Sie?» — «Ich gehe zurück!» sagte der Soldat. — «Warum?» — «Weil wir uns
nicht mehr halten können.» Ganz Lourdes in einem Satz.
    Man betrachte ja nicht die Massen
in Lourdes als einen Haufen Ekstatischer und religiös Verzückter. Im Gegenteil:
die Atmosphäre ist recht kleinbürgerlich; es sind Bauern und kleine Bürger, die
da zur Heilung kommen, und tobende Ausbrüche sind recht selten. Als Hellpach
noch Nervenarzt war, hat er einmal davon gesprochen, daß «nicht jede Epidemie,
in der ein paar Hysterische sich herumtreiben, eine hysterische Epidemie ist;
von den wirklichen hysterischen Epidemien ist die große Menge der bloß mit
hysterischen Zügen Geschmückten sorgfältig zu sondern». So auch hier. Nein, es
ist etwas ganz anderes als Hysterie.
    Es ist das Beispiel. Es ist die
Nachahmung. Es ist die Geste.
    Man falte einer Hysterischen in
der Hypnose die Hände — und ihr Gesicht nimmt einen flehenden Ausdruck an. Man
versetze sie mit zornigen Gesten in einen zunächst fingierten Zustand der
Raserei, und das Blut steigt ihr langsam zu Kopf. (Der Schauspieler sei hier
ausgenommen.) Espinas, der französische

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